Rund 35 Jahre nach der Einheit gibt es Streit über den Stand der Wiedervereinigung. So hält die Union das Amt des Ostbeauftragten der Bundesregierung inzwischen für überflüssig, auf Seiten der rot-grünen Minderheitsregierung sieht man dies ganz anders. Aktuell hat die Position der SPD-Politiker Carsten Schneider inne. Offiziell ist die Aufgabe dieses Regierungsbeauftragten, die Wiedervereinigung zu vollenden.
Einer aktuellen, von Schneider in Auftrag gegebenen Untersuchung zufolge hadert ein großer Teil der Menschen in Deutschland mit der Demokratie. Besonders ausgeprägt ist diese Sichtweise in den ostdeutschen Bundesländern, wie der „Spiegel“ unter Berufung auf den aktuellen „Deutschland-Monitor“ berichtet. Dieser wird seit 2022 jährlich von einem Konsortium verschiedener Institute erhoben.
Der repräsentativen Untersuchung zufolge, die auf rund 4000 bundesweit geführten Interviews basiert, gebe es zwar einen breiten Konsens, dass es sich um die beste Staatsform handelt, so das Magazin. Knapp 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aber sind der Studie zufolge mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden. In den neuen Bundesländern ist es sogar mehr als die Hälfte der Befragten – 53 Prozent.
Die hohe Präferenz für Sicherheit gerade in strukturschwächeren Regionen in Ostdeutschland und unter den älteren Ostdeutschen treibt mich um.
Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung (SPD)
Besonders ausgeprägt ist diese Haltung dem Bericht zufolge in ökonomisch schwächeren Regionen, wo die Menschen zugleich eine fehlende soziale Gerechtigkeit beklagen und Sorgen vor einem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg haben. Schneider führt den Unmut auf „Abwertungserfahrungen seit den Neunzigerjahren und fehlende Repräsentation“ zurück. Er fordert, mehr Führungspositionen mit Ostdeutschen zu besetzen.
Viele Befragte beklagen demnach, dass die politischen Akteure zentrale Aufgaben bei Wohlstand, Freiheit und Sicherheit nicht erfüllten und Wahlversprechen nicht einhielten. Kritisiert wird das Streben nach Machterhalt sowie parteitaktisches Handeln in der Regierung. Zudem wünscht sich ein gewichtiger Teil der Bevölkerung mehr direkte Demokratie.
Bei den Institutionen vertrauen die Bürger vor allem dem Bundesverfassungsgericht. Deutlich schlechter sind die Werte für Regierungen auf Bundes- und Landesebene. Nicht einmal jeder Dritte vertraut der Bundesregierung – ein Rückgang um sechs Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Am schlechtesten stehen die Parteien da: Weniger als ein Viertel der Befragten vertraut den Parteien im Allgemeinen.
Nur jeder Achte schätzt Zusammenhalt der Gesellschaft als positiv ein
Thema des Deutschland-Monitors 2024 ist die Frage: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ In der Abwägung zwischen Freiheit und Gleichheit bevorzugen die meisten Befragten die Freiheit (73 zu 23 Prozent). In der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit überwiegt dem Bericht zufolge bei den Befragten die Sicherheit (40 zu 54 Prozent). In Ostdeutschland steigt die Sicherheitspräferenz mit zunehmendem Alter deutlich. Dieser Trend ist den Autoren zufolge im Westen kaum erkennbar.
„Die hohe Präferenz für Sicherheit gerade in strukturschwächeren Regionen in Ostdeutschland und unter den älteren Ostdeutschen treibt mich um“, sagt Schneider. Sein Ziel sei, diesen Menschen ein Sicherheitsgefühl zurückzugeben, „indem wir zum Beispiel für stabile Renten, eine gute Infrastruktur und auch staatliche Präsenz sorgen, nicht nur durch die Polizei“.
Gering ausgeprägt ist dem Bericht zufolge auch ein „Wir-Gefühl“ im Land. Nur 31 Prozent der Befragten haben demnach ein stabiles Grundvertrauen in ihre Mitmenschen. Nur jeder Achte schätzt den gesellschaftlichen Zusammenhalt positiv ein. Auf lokaler Ebene ist das soziale Vertrauen dagegen im vergangenen Jahrzehnt gewachsen.
Schneider sieht darin eine Chance: Man müsse den lokalen Zusammenhalt stärken, „ohne dabei auszugrenzen“. In den deutschen Nachbarschaften müsse man „offen sein für Menschen, die von außerhalb hinzuziehen, ob aus dem In- oder Ausland“. (lem)