53. Theaterbiennale in Venedig: Rebellion gegen die Superreichen

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Kaum haben sie die Kreuzfahrtschiffe verbannt, kommen die Techgiganten. In Venedig hat parallel zur Theaterbiennale eine Kampagne gegen die für Ende Juni geplante Megahochzeit von Amazon-Gründer Jeff Bezos begonnen. Vor Vaporetto-Stationen und den letztverbliebenen Supermärkten hängen Plakate mit dem Konterfei des Milliardärs und der Forderung: „Kein Platz für Bezos“. Am Glockenturm der Palladio-Kirche San Giorgio Maggiore hat eine Gruppe von Aktivisten unlängst ein Transparent entrollt, auf dem der Nachname des Großinvestors mit blutroter Farbe durchgestrichen war. Die Vorstellung, dass diese Stadt zur privaten Eventlocation für Superreiche verkommt, die sich zu Statuszwecken ihre Aura mieten und für einen Abend so tun, als kämen sie von hier, als gehörte die Stadt und ihre Schönheit ganz ihnen, diese Vorstellung von Venedig als Edelprostituierter treibt die letzten echten Bewohner der Stadt auf die Barrikaden. Zum Missfallen der Kommunalpolitiker und Hochzeitsagenturen, die dadurch einen Imageverlust fürchten.

Es ist nicht alles „Pollyanna“ an Venedig, wie Willem Dafoe, der neue Kurator der Theaterbiennale, sagt und damit der unübersehbaren Vielzahl an Attributen für Venedig ein neues, überraschendes Wort hinzufügt. „Pollyanna“, so heißt die unermüdlich frohgemute Romanfigur in Eleanor H. Porters 1913 erschienenem gleichnamigen Kinderbuch. Ihr Name ist zum geflügelten Wort geworden für einen überbordenden Lebensfrohsinn, der den Härten und Schmerzen des Lebens mit erfüllter Zufriedenheit und grenzenloser Glückseligkeit begegnet. Wirklich kein schlechtes Wort für jenes Venedig-Gefühl, das einen trotz allen Massentourismus und aller Aura-Attrappe auch heute wieder überkommt. Nicht so sehr am Tag als in der Nacht – wenn die letzten Partyboote vorbeigefahren sind und das Wasser sich ausruhen kann von den Schlägen der Tausenden Schiffsschrauben, die von früh morgens an durch die Lagune fräsen.

Das Glück von Venedig

Jetzt erst, am späteren Abend, kann das Wasser sein, was es sein will: Lebendiges Element, das verführerisch gegen die Kaimauern schlägt, das Licht der Laternen spielerisch spiegelt und übertriebenerweise manchmal sogar das des Mondes. Wenn es einen Ort gibt, an dem uns das Leben ein klein wenig glücklicher erscheinen mag, als es in Wahrheit ist, an dem unser Wollen gestärkt und unser Selbstzweifel besänftigt wird, dann ist es eine Dachterrasse im mitternächtlichen Venedig. Oder wie Vico Torriani singt: „Wer nachts am Lido ledig und zu zweit ist / der nimmt das Glück für immer mit an Bord.“

Auf der Isola del Lazzaretto Vecchio hingegen, dort wo Romeo Castelluccis Schauer-Performance „I mangiatori di Patate“ stattfindet, war traditionell vor allem das Unglück zu Hause. Hier, auf der heute nicht mehr öffentlich zugänglichen Insel, wurden schon im 14. Jahrhundert die Pestkranken und Verseuchten kaserniert, hier hallten die Schmerzensschreie der Sterbenden durch die Gänge des Krankenhauses, hier entdeckten Archäologen später Massengräber. Castellucci nutzt die geisterhafte Anmutung des Ortes für eine düstere Reflexion über den Abgrund des Menschen. In kleiner Gruppe läuft man von einer Führerin angeleitet durch die stockdunklen Gänge des alten, inzwischen gut restaurierten Lazaretts.

Romeo Castelluccis Schauer-Performance „I mangiatori di Patate“ auf der Isola del Lazzaretto VecchioRomeo Castelluccis Schauer-Performance „I mangiatori di Patate“ auf der Isola del Lazzaretto VecchioAndrea Avezzu

Hier und da lässt der Performance-Guide pausieren, weist auf einen Raum hin, in dem jemand verzweifelt versucht, sich fortzubewegen. In einen schwarzen Plastiksack gehüllt, von gleißendem Scheinwerferlicht oder nervösen Roboterarmen traktiert, ist der Mensch in seinem einzwängenden Schicksalskokon der Technik und unseren katas­trophensüchtigen Blicken hilflos ausgeliefert. Keine Instanz schützt ihn mehr, kein Gott wird ihn noch retten.

Später, in der wirkungsvollsten Passage dieser rund fünfundvierzigminütigen Performance, steht man im Stockdunkeln und wird von Windmaschinen kolossal stark angeblasen. Es pfeift und wummert, als käme dieser Wind direkt aus der Hölle. In Wahrheit aber soll er aus dem Paradies kommen, denn kaum legt sich der Sturm, zeichnet sich im langsam aufscheinenden Schummerlicht eine große Engelsfigur ab, mit aufgespannten Flügeln, in denen sich der Sturm des Paradieses verfangen haben soll – „dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst“, so heißt es in Walter Benjamins wohl bekanntestem Text: „Über den Begriff der Geschichte“.

Gewalttätigkeit unseres Fortschrittsdenkens

Ein Text, der gerne in Programmheften abgedruckt oder bei Debütfilmen im Intro eingelesen wird, weil er theoretisch ist und doch poetisch klingt. Dass der Fortschritt in diesem Text als bösartiger Sturm beschrieben wird, der den Menschen davon abhält, die Zusammenhänge zu verstehen und um die Toten zu trauern, dass die Vision einer besseren Zukunft hier als dialektisch konnotiert und der brutal hinwegreißende Charakter einer progressiven Weltanschauung angedeutet wird, vergisst und verdrängt man dabei gern. Castellucci hingegen konzentriert sich genau darauf und unterstreicht die Gewalttätigkeit unseres Fortschrittsdenkens.

Eine Gruppe von Bergarbeitern mit Hacken und Schaufeln rollt den bereits eingeführten schwarzen Plastiksack nach vorne und packt den geworfenen Menschen umständlich aus. In diesem Fall ist der Mensch eine weiß getünchte nackte Frau, eine Art Schmerzens-Madonna, die anmutige Posen des Leidens einnimmt. Von den rußigen Bergarbeiterhänden voyeuristisch in Stellung gebracht, wird ihr eine Art Sprachknebel in den Mund geschoben, der jeden ihrer Ausdrucksversuche in unverständliche Laute verwandelt. Eine Folterung der semantischen Art – die von sexueller Unterwerfungsphantasie untermauert wird.

 „No Title (An Experiment)“Willem Dafoe und Simonetta Solder in: „No Title (An Experiment)“Andrea Avezzu

Über Castelluccis Performance wird in Venedig am meisten geredet. Befürworter und Gegner liefern sich Schlagabtausche – ist das metaphorische Monumentalität oder auratischer Kitsch? Kann ein Bild größer wirken, als es ist? Eine Ausstattung billiger sein als ihr Preis? Bei Castellucci ist immer alles stilvoll und teuer, kein Detail ist zufällig oder realrau – alles fügt sich einem unbedingten, von Horrorfilmen und Großformaten beeinflussten Stil. Das hier ist provokative Kunst in der würdigen Nachfolge von Pasolini, will fast jede seiner Inszenierungen sagen. Und auch hier, im alten venezianischen Lazarett, kommt man nicht umhin, Castelluccis Wirkung zu verfallen und gleichzeitig seine ästhetische Angeberei zu verachten.

Am späten Abend dann das genaue Gegenteil: eine ruhige, fast kontemplative Performance des griechischen Schwesterpaars Evangelia und Mary Rantou in Arsenale. Auf Korfu haben die beiden ein Festival gegründet und unter anderem schon mit Lucinda Childs oder Robert Wilson gearbeitet. „Mountains“ heißt jetzt ihre in Venedig uraufgeführte Performance, die nur Steine und Steinhaufen zeigt, aber damit von nichts weniger als dem Zusammenhang zwischen Geschichte und Gegenwart handelt. Laut Programmheft (!) ebenfalls ausgehend von Benjamins Geschichtsphilosophie wird hier der Körper als Archiv vorgestellt, als Sammelbecken unterschiedlicher Erfahrungen und Berührungen.

Wer hat ihn alles schon mit welchen Gedanken angeschaut, wie ist er angefasst, eingesetzt, ausgeführt worden? Ohne Worte bewegt sich Evangelia Rantou unter der choreographischen Anleitung ihrer Schwester eine Stunde lang zwischen den Steinen über die Bühne, baut hier einen Haufen, legt dort ein Teil quer. Die Geschichte ist keine Kette von Begebenheiten, sie ist ein unübersichtliches Trümmerfeld. Aber sie ist eben auch eine freie Fläche, die man betreten kann. Nicht achtlos, nicht ohne Sorgfalt und Vertrauen. Am besten betritt man die Fläche, indem man von Stein zu Stein springt, ohne sich vom Sturm im Rücken zu sehr hetzen zu lassen.

Dazu passte, dass Ursina Lardi, die diesjährige Preisträgerin des Silbernen Löwen für Darstellende Künste, in ihrer Dankesrede den amerikanischen Dichter Walt Whitman zitierte mit seinen unvergänglich mutmachenden Worten: „Alle Erfahrungen sind benannt . . . und doch: nach zahllosen Liedern, lang oder kurz, in allen Sprache, allen Ländern . . . immer noch ist manches nicht erzählt.“ Wenn die darstellende Kunst, wenn das Theater sich darauf einigen kann: trotz allem weiter zu erzählen von dem, was der Mensch in dieser Zeit bedeutet, dann kann ihm, so denkt man pollyannahaft mit Blick auf das venezianische Mondwasser, dann kann ihm und uns eigentlich nicht viel passieren.

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