Zum Tod von Frank O. Gehry: Der Bildbauer der Moderne

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Er war rastloser Zeichner. Er war Bildhauer und Designer. Und er war Architekt. Der als Ephraim Owen Goldberg 1929 in Toronto zur Welt gekommene Frank O. Gehry schuf Gebäude nicht von der Konstruktion, vielmehr vom Bild her, als Skulpturen, denen stets etwas Malerisches eignet. Sein privates Wohnhaus wandelte wie eine Plastik von Edgar Degas über die Jahrzehnte immer wieder organisch die Gestalt.

All seinem gestalterischen Tun aber ging die Zeichnung voran. Noch bis vor wenigen Jahren gab er mit dem befreundeten Pop-Artisten David Hockney Zeichenkurse für benachteiligte Kinder in Los Angeles, der Stadt, in der er seit 1947 lebte und arbeitete, nachdem seine Familie vom kalten Kanada nach Kalifornien gezogen war, um dem kranken Vater ein milderes Klima zu verschaffen.

Trat man Weihnachten 2023 in ein Pariser Edelkaufhaus, blickte Gehry einem verschmitzt von zahlreichen Bildschirmen entgegen, stolz eine von ihm gestalte Whiskey-Flasche präsentierend. Seine wie chinesische Drachen anmutenden schwebenden Fischskulpturen, souveräne Ummünzungen des Spitznamens „Fish“ der Mitschüler in Kanada, präsentierte er zufrieden Besuchern in der Küche seines Hauses in Santa Monica und stellte sie in der größten amerikanischen Galerie aus. Ebenso stolz aber war er auf den von ihm gezeichneten Stuhl sowie eine windschnittige schwarze Segeljacht, deren hölzernes Oberdeck er von einem komplexen Muster perforieren ließ, durch das Licht in impressionistischer Manier wild gebrochen nach unten in das Schiff fiel.

Mächtig wie Steamliner unter Dampf

Maritimes war ihm grundsätzlich wichtig, die Verbindung mit dem Wasser eine Passion. Seine Bauten sollten wie große Windjammer mit geblähten Segeln allen Stürmen trotzen oder wie mächtige Steamliner unter Dampf an der Kaimauer stehen, jeden Moment bereit zur Abfahrt. Am stärksten ist diese seit der Antike gebaute Schiffsmetapher in Gehrys 1997 eröffnetem und wohl ikonischstem Werk des Guggenheim Bilbao direkt am Wasser, aus dessen mächtigem titanblechschimmernden Aufbau man Schlote aufragen sehen kann.

Die Fondation Louis Vuitton in ParisDie Fondation Louis Vuitton in ParisAFP

Doch selbst das 2014 in Betrieb genommene Ausstellungsgebäude der Pariser Sammlung Louis Vuitton greift trotz seiner Lage im Bois de Boulogne mit seinen wie Schiffsleinwand gewölbten Flächen diese seit der Renaissance vertraute Metaphorik auf, die der Museums-Fregatte eine mitreißende Dynamik verleihen. Inspiration war Gehry hier nicht nur Jørn Utzons 1957 begonnenes und erst 1973 vollendetes Sydney Opera House mit seinen prallweißen Segeln, sondern auch Erich Mendelsohns expressiv geschwungene Dünen-Zeichnungen und Hermann Finsterlins Entwürfe der Zwanzigerjahre auf, vor allem aber Hans Scharouns Berliner Philharmonie. Vor ihr stehend rief er einst aus, dass er die skulpturale Qualität „dieses Kerls“ wohl nie einholen werde.

Geschichte im Futurismus

Überhaupt stammen die Anregungen für seine Bauskulpturen meistenteils aus der Geschichte, was für seine Art futuristischen Gestaltens charakteristisch scheint. Die offensichtlichen sind Vorbilder wie der geniale italienische Mathematiker und Barockbaumeister Guarino Guarini mit seinen unausgesetzten Schwüngen aus konvexen und konkaven Raumschalen und die ebenfalls federnden und vom Licht leicht gemachten Kirchenräume Balthasar Neumanns wie etwa die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen bei Bamberg, die der moderne Architekt verehrte und deren Dachkonstruktion über den tanzenden Außenwänden alleine schon derart kompliziert ist, das es eine eigene Doktorarbeit zu ihr gibt – ähnlich muss bei Gehrys Gebäude-Außenhäuten Panel für Panel individuell geschnitten werden, was nur noch mit einem Computerprogramm möglich ist, das ursprünglich für die kühn geschwungenen Flügel der französischen Mirage-Düsenjäger entwickelt wurde.

Besonders jedoch liebte er die Skulptur des romanischen Mittelalters und Malerei von der Renaissance bis zur Romantik des von ihm verehrten Carl Blechen. Während die gotische Architektur für ihn keine skulpturale Qualität besaß, zog er eine wesentliche Energeia seiner bewegten Häuser aus Kapitellskulptur der Romanik, in der sich für ihn die gesamte Anarchie der im 11. und 12. Jahrhundert seitens der Kirche noch nicht gezügelten Formen Bahn brach.

Sein „Tanzendes Haus“ (Tančící dům) in Prag, mit einem swingenden steinernen Turm, der den Mann repräsentiert wie auch einem gläsernen für die Frau und vom Volksmund – immer ein Zeichen für anerkennende Popularität – bald schon „Ginger und Fred“ getauft, ist das gebaute Pendant zu einem steinernen Kapitell des 11. Jahrhunderts am spanischen Pilgerweg: Gehry kannte es und vollzog vor dem sich gegenüberstehenden Paar beim Schleiertanz in der Kathedrale von San Pedro de Jaca deren innige Motorik nach. Genauso jubelte er in der grandiosen Berliner Ausstellung 2019 zu Mantegna und Bellini vor des Ersteren Gemälde „Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend“, exakt diese fensterartige Ruinengarten-Struktur mit Felsgesichtern im Hintergrund habe er gerade in seinem Hauptwerk der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles in eine aufwendige Konstruktion umgemünzt.

Die Walt Disney Concert Hall von Frank O. Gehry in Los AngelesDie Walt Disney Concert Hall von Frank O. Gehry in Los AngelesAP

Geprägt wurde er von diesem bildlichen Bauen in avantgardistisch alten Formen bereits 1961, als er zeitweise für den Pariser Architekten André Rémondet an ebenfalls konkav einschwingenden Kühltürmen für Atomkraftwerke und deren halbrunden Reaktorkuppeln arbeitete und nebenher auf Exkursionen die Skulpturen Burgunds für sich entdeckte. Wild bewegte Motive des romanischen Portals von St. Lazare in Autun oder von Kapitellen der Maria Magdalena geweihten Basilika von Vezelay finden sich in transformierter Form etwa im Inneren des Guggenheim Bilbao.

Das buchstäblich „vielfältige“ Gewand eines der in Stoff verhüllten trauernden „Pleurants“ vom Herzogsgrabmal Philipp des Kühnen des spätgotischen Bildhauers Claus Sluter in Dijon setzte er in seinem wie ein riesiger aufbauschender Mantel konzipierten Tagungssaal des Berliner DZ-Bankgebäudes gegenüber dem Brandenburger Tor um, das wie ein überdimensionierter Mönchshabit segelartig die darin Sitzenden überwölbt. Manieristische Überzeichnungen wie Parmigianinos „Madonna mit dem langen Hals“ liebte er, wenn etwa sein gleichfalls spindeldürrer New Yorker „8 Spruce Street“-Tower – bei Fertigstellung 2011 mit 265 Metern und 76 Stockwerken das höchste Wohngebäude der westlichen Hemisphäre – sich im Wind zu verbiegen und zu schütteln scheinen.

Frank O. Gehrys Luma-Foundation-Turm in Arles ragt über die Dächer der Stadt. Die Luma Foundation ist eine der größten privaten Kunst-und Kulturprojekte Europas.Frank O. Gehrys Luma-Foundation-Turm in Arles ragt über die Dächer der Stadt. Die Luma Foundation ist eine der größten privaten Kunst-und Kulturprojekte Europas.dpa

Oder seine Düsseldorfer Gebäudetrias „Neuer Zollhof“ in Metall, Ziegel und Putz wie Mumins jeden Moment in den Fluss springen könnte. Nicht zuletzt versucht eines seiner letzten vollendeten Großprojekte, der metallisch spiegelnde Turm des Luma-Museums im südfranzösischen Arles von 2021, mit seinen gegeneinander verschobenen Facetten das sich beständig wandelnde Licht der Impressionisten und von Van Goghs „Sternennacht“ in fließende Form zu überführen.

Bei all dem war Gehry nie Theoretiker. Die für ihn gehobelte Schublade eines Miterfinders der Postmoderne und des Dekonstruktivismus, fixiert insbesondere an den zersplitterten Bauten „Norton House“ in Venice von 1984, dem „Benson House“ aus demselben Jahr sowie den vier respektive drei Jahre früheren Wohnskulptur-Ikonen „Indiana Avenue House“ und „Spiller House“, befremdete ihn bis zuletzt.

Unfertig und niemals statisch

Der künstlerische Formprozess blieb für ihn als Mensch des Auges und der Hand bei jedem Projekt von Neuem derselbe, unberechenbare, skulptural sich beständig ändernde Vorgang:  Erste Zeichnungen, in denen er die Idea wie Leonardo mit zittrig-nervösen Konturen immer wieder umkreiste und die oft schon im Kern die spätere Form enthielten, verwandelte er vom zweidimensionalen Medium Papier in eine plastische Skulptur, indem das Blatt beispielsweise zerknüllt und wie eine Plastik aus Ton geknetet wurde. Von den Mitarbeitern abgefilmt und in dreidimensionale Modelle am Computer wie in unterschiedlichsten Materialien wie Papier, Pappe und Styropor überführt, durchlief dieser „Disegno“ noch viele weitere Metamorphosen, bis Gehry exakt wusste, wann der Moment der Vollendung gekommen sei. Was jedoch nicht  bedeutet, ein Gebäude von ihm sei jemals fertig und statisch gewesen – das Licht und die Bewegung der Besucher der Gebäude vor den skulpturalen und häufig spiegelnden, weil metallverkleideten Oberflächen sorgen für permanenten Wandel in seiner schwerelosen Architektur.

Genau wie sich der zeichnende Baumeister-Bildhauer auch selbst immer wieder wandelte und neu erfand. Von der klassischen Architektenkluft im schwarzen Rollkragen über Tweed-Sakkos bis hin zu seinem legeren, von ihm sehr geliebten Auftritt in der Serie „Die Simpsons“ als papierzerknüllender und damit bauender Berserker war er äußerlich chamäleonhaft, innerlich jedoch blieb er sich treu, bis zuletzt vor Ideen und Energie berstend. Vergangenen Freitag nun ist Frank O. Gehry mit 96 Jahren in Los Angeles gestorben. Seine Bauskulpturen aber tanzen, unendlich traurig zwar, doch voller Elan und ihre Umwelt begeisternd, weiter. Stefan Trinks

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