„Was Marielle weiß“: Eine Hommage an den Regisseur Frédéric Hambalek

vor 19 Stunden 4

Aus den Zeiten, in denen sich alles um den deutschen Mittelstand drehte, stammt ein Produkt, das 1974 den Alltag vieler Eltern veränderte: Der „elektrische Babysitter“ der Firma Reer aus Leonberg in Baden-Württemberg ermöglichte es, ein Ohr auf das Neugeborene zu haben, während man nicht im selben Raum war. Heute muss man dafür auch kein Kabel mehr durchs Haus legen, und selbstverständlich haben neuere Geräte eine Videofunktion. Das Babyphon ist kein triviales Detail im Alltag, es ist ein Produkt mit weitreichenden Implikationen. Das begriff auch der Filmemacher Frédéric Hambalek, der durch Bilder, die sein eigenes Kind beim Schlafen und Träumen zeigten, auf eine Idee kam: Was wäre, wenn sich die Rollen anders verteilten? Wenn das Kind zuschauen könnte, was die Eltern so machen, während sie sich unbeobachtet wähnen?

Damit ist die Prämisse für seinen Film „Was Marielle weiß“ benannt. Im Februar wurde Hambalek damit überraschend in den Wettbewerb der Berlinale nominiert, ging dort aber leer aus. In der deutschen Filmbranche werden ihn nicht viele auf dem Schirm gehabt haben – ein junger Mann aus Karlsruhe, noch keine vierzig Jahre alt, davor nur ab und zu als Drehbuchautor verzeichnet, dann 2019 ein erster eigener Film mit dem Titel „Modell Olimpia“. Und nun eben „Was Marielle weiß“. 86 Minuten lang, keine Faser zu viel, und bebend vor Ambivalenz. Handelt es sich bei der Geschichte eines Paars mit einer halbwüchsigen Tochter um eine Komödie? Einen Thriller? Einen Horrorfilm? Von allem mindestens etwas und in der Mischung etwas Einmaliges.

Der Regisseur Frédéric HambalekDer Regisseur Frédéric HambalekJens Koch

Stellt man „Was Marielle weiß“ neben Tom Tykwers „Das Licht“, dann hat man nicht nur zwei Filme, die auf der diesjährigen Berlinale zufällig nebeneinander auftauchten (der eine als Eröffnungsfilm außer Konkurrenz, der andere in der Konkurrenz). Man hat zwei Filme über Familien unter Stress. Und man hat zwei markant gegensätzliche Positionen. Tykwer mit einer ausladenden Großproduktion, die in viele Richtungen strebt, unterstützt von allem, was die deutsche Filmförderung aufzubieten hat. Hambalek mit einer kleinen Produktion, Kunst- und ein bisschen Regionalförderung, zwei Stars (Julia Jentsch und Felix Kramer) und eine Entdeckung (Laeni Geiseler als Marielle). „Das Licht“ ist ein Film, der alles nach außen stülpt, was ihm ein Anliegen ist. „Was Marielle weiß“ verdichtet alles in eine perfekt komponierte, elastische Gestalt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Der Ausgangspunkt bei Hambalek ist ein Umstand, den er umstandslos herleitet. Marielle wird in der Schule geohrfeigt. Der kleine Gewaltakt bildet den Prolog, in Großaufnahme, in Verlangsamung. Ein Akt, der wirkt, als läge er außerhalb der Wirklichkeit. Er hat jedoch konkrete Folgen. Denn in Marielles Gehirn muss sich etwas verschoben haben. Sie weiß nun plötzlich, was ihre Eltern gerade machen. Die Mutter Julia flirtet in der Firma in einer Pause mit einem Kollegen, sie will sich sexuell wieder mehr spüren. Der Vater Tobias hat in einem Verlag eine leitende Funktion, wird aber von einem ehrgeizigen Angestellten unter Druck gesetzt. Er gibt sich Blößen, agiert unsouverän. Sollte Marielle ein Vaterideal gehabt haben, bekommt das nun Brüche. Denn sie hat abends, wenn die Familie bei Tisch sitzt, alles das präsent, was während des Tages geschehen ist.

Der Terror totaler Transparenz

Mit dieser Idee einer Kleinfamilie, die aus heiterem Himmel in ein Terrorregime totaler Transparenz geraten ist, arbeitet Hambalek dann regelrecht systematisch. Er spielt alle Implikationen seiner Idee durch und belässt zugleich die Idee in einem dezidierten Ungefähr. Wie das konkret denkbar sein könnte, was Marielle erlebt, was in ihrem Gehirn vorgeht, wenn sie in drei Wirklichkeiten zugleich lebt, das spielt im Detail keine Rolle und hat als Ereignis seinen Ort nur im Gesicht von Laeni Geiseler, der überragenden Hauptdarstellerin.

Mit einem „unmöglichen“ Bewusstseinszustand spielte Hambalek schon in „Modell Olimpia“. Der beginnt mit dem Satz: „Ich sehr, sehr traurig, dass ich tot bin.“ Er kommt von einem jungen Mann, der mit seiner Mutter in einer durchschnittlichen Wohnung irgendwo in einer unauffälligen Gegend in Deutschland lebt. Vielleicht gehört der Satz zu einem Rollenspiel, aber die Unklarheit darüber, was Wirklichkeit ist, durchzieht „Modell Olimpia“ und macht den Kern seiner Spannung aus. Mutter und Sohn haben jedenfalls so etwas wie ein Projekt miteinander: „Wir kriegen’s hin.“ Wird hier eine Deprogrammierung eines Triebtäters vorgenommen, außerhalb einer Institution? Die Mutter wickelt ihren Sohn in Plastik und lässt ihn eine Stunde in dieser harten Fesselung einfach liegen. „Wir dürfen nicht lockerlassen. Der Körper macht keine Pausen.“ Eine junge Frau wird engagiert, sie stellt sich zur Verfügung für ein brutales Rollenspiel, das mit einem Telefon gefilmt wird. Landet das am Ende als „Reel“ auf einem sozialen Netzwerk? Oder in einer konspirativen Gruppe, die sich an solchen Grenzgängen erregt?

Die Eindeutigkeit ist hier beunruhigend

Frédéric Hambalek hat damals gar nicht groß versucht, Filmförderung für „Modell Olimpia“ zu bekommen. Er setzte 10.000 Euro an Erspartem ein und produzierte mehr oder weniger auf eigene Faust. Er wusste, dass er damit besser nach eigenen Maßgaben etwas schaffen konnte, was seine Eintrittskarte in den deutschen Film sein würde. Die Rätsel, die er mit seinem Film aufgibt, verstärken sich noch in dem Moment, in dem sich herausstellt, was mit dem „Modell Olimpia“ gemeint ist: eine Schaufensterpuppe, die nun erst recht die Andeutungen verstärkt, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod hier anders verlaufen, als man das auch in erfundenen Geschichten üblicherweise voraussetzt.

Aus dem Alltag des deutschen Kinos kennt man viele Fälle, in denen Drehbücher auf stärkere Verständlichkeit hin überarbeitet werden. Zumal wenn das Fernsehen im Spiel ist, wird Eindeutigkeit zu einem strengen Gebot. Hambalek ist vor diesem Hintergrund deswegen ein so spannender Filmemacher, weil bei ihm immer alles maximal eindeutig ist: Alles liegt vor der Kamera offen. Was man sieht, ist, was man kriegt. Zugleich aber versetzt er diese Eindeutigkeit in einen Zustand der starken Beunruhigung. So entstehen Filme, die deutlich von einem großen filmhistorischen Wissen geprägt sind – in Hollywood sprach man früher von B-Movies, also von zweitrangigen Filmen, auf denen weniger kommerzieller Druck lastete und in denen im Gewand formelhafter Erzählungen zum Teil wagemutige Kunstwerke entstanden. Dieses Erbe macht Hambalek für den deutschen Film wieder stark.

Dieses Kino hat nichts Theoretisches

Das ist eine interessante Entwicklung auch insofern, als er eigentlich der Generation angehört, die mit den allesfressenden Blockbustern der Siebziger- und Achtzigerjahre aufwuchs. Fragt man ihn, was in seiner Kindheit für ihn Kino war, dann antwortet er: „Star Wars“. Dann sah er allerdings in dem Alter, in dem auch Marielle ist, im Fernsehen einen Film, der für ihn alles veränderte: „2001 – Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick. Ein Film, der eigentlich nur auf einer großen Leinwand wirklich Sinn ergibt. Aber für Hambalek erschloss sich auch auf dem kleinen Fernsehbildschirm etwas, das nun auch seine eigene Arbeit prägt. Kubrick war ein großer Konstruktivist. Er überließ kein Detail dem Zufall. Wenn er einen Kriegsfilm machte, wie etwa „Full Metal Jacket“, dann am liebsten im Studio.

Diese starke Kontrolle über ein fiktives Universum zeichnet nun auch Hambaleks Kino aus. „Das Licht“ ist bei diesem Aspekt noch einmal ein interessanter Gegenpol. Tom Tykwer ist natürlich der Schöpfer, aber mit einem Gestus, der über sich selbst hinausweist. Man lernt eine subjektive Position kennen, die sich intersubjektiv verteilt. Hambalek hingegen steht für eine Subjektivität, die sich radikal konzentriert. Sein Kino hat nichts Theoretisches, man meint aber zu spüren, dass er in Mainz auch einmal Filmwissenschaft studiert hat. Er weiß, wie Erzählungen funktionieren, und geht raffiniert damit um.

Das Geheimnis, das wir hüten

In „Was Marielle weiß“ setzt er eine Konstellation unter Strom, die am Beginn des Erzählens steht: Vater, Mutter, Kind enthält im Kern alles, was es über die Menschen zu wissen gibt. Marielle ist in einem Alter, in dem sie gerade beginnt, ihre Rolle in diesem Dreieck nicht nur zu erleben, sondern auch zu verstehen. Dieses Verstehen steigert Hambalek bis zur absoluten Überforderung. Eine solche ist aber nicht darstellbar, also machen alle drei Beteiligten irgendwie weiter. Dieses Irgendwie ist die Crux des Films. Vor allem die Eltern improvisieren, sie müssen einerseits herausfinden, was Sache ist, und zugleich nach Möglichkeiten suchen, den unhaltbaren Zustand zu beenden.

Hambalek versteht es, Julia Jentsch und Felix Kramer in außergewöhnliche Zustände zu versetzen. Beide sind vertraute Gesichter, sie zählen nicht zu den ganz großen Stars, aber sie sind sehr präsent. Beide haben es hier mit einer unangenehmen Rolle zu tun. Die Bloßstellung, die im Zentrum der Geschichte steht, müssen sie auch noch vor der Kamera verarbeiten. Vor einer Kamera, die sie nicht schont – gerade Julia Jentsch hat einige Großaufnahmen, die nicht eben vorteilhaft sind. Aber nur so wird das Wissen von Marielle in seiner ganzen Schmerzhaftigkeit begreiflich. Man kann Hambaleks Film auch als eine Allegorie auf einen Verlust des Privaten lesen, in das mit den sozialen Netzwerken eine Kraft drängt, die alles verzehrt und in Bilder verwandelt, was einmal das Persönliche war. Aber das ist, auch von „Modell Olimpia“ her, eher ein Nebenaspekt.

Radikal und groß wird „Was Marielle weiß“ dadurch, dass er die Distanz zwischen Identität und Selbstbild angreift. Wir alle meinen zu wissen, wer wir sind, haben davon aber nur eine Vorstellung. Diese Vorstellung ist das Geheimnis, das wir vor den Menschen hüten, denen wir nahestehen, und das wir preisgeben, wenn wir Vertrauen fassen. Hambalek überspringt dieses komplexe Selbstverhältnis. Er macht die Menschen nackt, nackter, als sie in einem Porno jemals sein könnten. Und in dieser Nacktheit müssen sie weitermachen, als wäre nichts. Das kann auch komisch sein. Aber erst als virtuoser Horrorfilm macht „Was Marielle weiß“ richtig Sinn.

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