Das Regime des früheren syrischen Machthabers Baschar al-Assad hat seine Gräueltaten im syrischen Bürgerkrieg offenbar kurz bis vor seinem Sturz vor einem Jahr akribisch dokumentiert. Tausende Dokumente und Fotos belegen, wie planmäßig Assads Geheimdienste die Zivilbevölkerung unterdrückt und Menschen verhaftet, gefoltert und getötet haben. Der Datensatz war Reportern des NDR übergeben worden, der ihn gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung, dem WDR und dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) ausgewertet hat. Die Ergebnisse werden nun von mehreren Medien weltweit unter dem Titel „Damascus Dossier“ veröffentlicht.
Zentraler Bestandteil des Damascus Dossier sind Fotos von 10 212 Leichen, überwiegend männliche, aber es sind auch Frauen darunter – und mindestens ein Kind. Die Menschen waren in Gefängnissen der syrischen Geheimdienste inhaftiert, bei vielen dürfte es sich um Oppositionelle gehandelt haben. Die Aufnahmen wurden im Zeitraum von Mitte 2015 bis Oktober 2024 gemacht, einige wenige auch in den Jahren 2012 und 2013. Sie belegen, dass der langjährige Machthaber noch bis zu seiner Flucht Anfang Dezember 2024 Häftlinge foltern und hungern ließ. Viele der abgebildeten Leichen tragen Spuren stumpfer Gewalt und Unterernährung, die meisten Bilder zeigen Menschen in verwahrlostem Zustand, ausgemergelte Körper, überwiegend nackt.
Fast alle Opfer sind offenbar zu Identifikationszwecken aus verschiedenen Winkeln fotografiert worden. Man hat sie mit einer Häftlingsnummer, der Nummer der Sicherheitsbehörde, in der sie inhaftiert waren, und dem dazugehörigen Aktenzeichen der Gerichtsmedizin versehen, entweder direkt mit Filzstift auf der Haut oder mit weißen Aufklebern auf Stirn, Brust oder Bauch. Was sie bei den allermeisten aber nicht vermerkten, waren die Namen. Aus den toten Gefangenen wurden Nummern.
In den 134 000 Dokumenten, die diese mutmaßlichen Menschenrechtsverbrechen dokumentieren, sind auch vertrauliche Unterlagen aus verschiedenen Sicherheitsbehörden, die Einblicke in interne Vorgänge, Befehlsketten, aber auch Unternehmensbeteiligungen der Assad-Familie geben. Überdies finden sich die Namen von mehr als 1500 Menschen, von denen manche noch als vermisst gelten. Laut dem „Syrian Network for Human Rights“ sind seit Beginn der Unruhen in Syrien mehr als 160 000 Menschen verschwunden. In der Regel erfuhren Angehörige nichts von ihren Festnahmen oder ihrem Tod in Haft, da das Regime eine Politik der Informationsverweigerung betrieb.
Die Menschen auf den Fotos waren wohl teilweise seit Jahren in mindestens fünf Geheimdienstabteilungen inhaftiert, der Militärpolizei, dem Luftwaffengeheimdienst, dem Allgemeinen Militärgeheimdienst, der Politischen Sicherheitsabteilung und der sogenannten Palästina-Abteilung.
Viele der Fotos wurden nach Recherchen von SZ, NDR und WDR im Militärkrankenhaus Harasta aufgenommen. Die Einrichtung im Nordosten von Damaskus wurde als eine Art Umschlagplatz für die Toten aus den Geheimdienstgefängnissen der syrischen Hauptstadt benutzt. Militärfotografen machten Aufnahmen von den Leichen, und in einigen Fällen stellten Ärzte Totenscheine mit falscher Todesursache aus, bevor die Opfer des Regimes in Massengräber gebracht wurden. Die Totenscheine sollten wohl der Verschleierung der massenhaften Ermordung dienen.
Ein ehemaliger Oberst der syrischen Militärpolizei hat die Fotos Mittelsmännern zur Verfügung gestellt, die sie wiederum über Dritte an Reporter des NDR gaben. Dieser Oberst hatte zwischen 2020 und 2024 jene Einheit befehligt, die für die Erstellung der Bilder verantwortlich war. Nach dem Sturz des Regimes sicherte er die Festplatte, um, wie er selbst angab, zu gewährleisten, dass die Verbrechen des Assad-Regimes ans Licht kommen.
Bereits 2014 war ein Datensatz mit Fotos von mehr als 6000 Leichen aus Geheimdienstgefängnissen öffentlich geworden. Der Militärfotograf Farid al-Madhan hatte ihn 2013 außer Landes gebracht. Al-Madhan, der aus Sicherheitsgründen seine Identität erst mehr als zehn Jahre später, nach dem Sturz des Assad-Regimes, offenlegte, gab sich den Decknamen „Caesar“. Die von ihm gesammelten Fotos wurden daher als „Caesar“-Fotos bekannt. Sie belegten erstmals umfassend, wie systematisch das syrische Regime seit dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 in Foltergefängnissen gegen die Zivilbevölkerung vorging, und erregten weltweit Aufsehen. Die neuen Bilder zeigen, dass das Regime davon unbeeindruckt bis zu Assads Sturz weitermachte.
Die in Deutschland für die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständige Bundesanwaltschaft (GBA) nutzte die Caesar-Fotos nach einer rechtsmedizinischen Begutachtung in verschiedenen Prozessen gegen ehemalige Angehörige des syrischen Regimes. Auch der neue Datensatz liegt dem GBA vor. Der Generalbundesanwalt Jens Rommel sagte dazu im Interview mit SZ, NDR und WDR, dass diese neuen Fotos nun ebenfalls von der Kriminalpolizei und einem Rechtsmediziner ausgewertet würden. Erst danach ließe sich sagen, ob diese denselben Beweiswert haben wie die Caesar-Fotos. „Fotos, die uns zu Syrien vorliegen, ergänzen die Zeugenaussagen einzelner Personen. Sie machen besonders anschaulich für jeden sichtbar und damit auch objektivierbar, was einzelne Personen erlitten haben“, sagte Rommel.
Da bei den meisten der fotografierten Leichen keine Namen hinterlegt sind, konnten bisher nur die Identitäten von zwei Toten zweifelsfrei festgestellt werden. Einer von ihnen ist ein 34-jähriger Deserteur, der sich in die Türkei abgesetzt hatte und von dort offenbar wieder nach Syrien abgeschoben wurde. Er wurde an einem Checkpoint festgenommen und im berüchtigten Gefängnis Saidnaja inhaftiert. Ein anderes Foto zeigt den bekannten syrischen Menschenrechtsaktivisten Mazen al-Hamada.
Er hatte sich 2011 den Protesten gegen das Assad-Regime angeschlossen, wurde daraufhin mehrmals verhaftet und in verschiedenen Geheimdienstgefängnissen gefoltert. Ende 2013 wurde er freigelassen. Al-Hamada floh aus Syrien und bekam Asyl in den Niederlanden, wo er als wichtiger Zeuge in Strafermittlungen gegen Angehörige des Regimes in Europa aussagte. Al-Hamada kehrte 2020 nach Syrien zurück, offenbar um Familienangehörige aus der Haft auszulösen – und wurde wieder inhaftiert, ebenfalls in Saidnaja.
Seine Leiche wurde einen Tag nach dem Sturz Assads am 8. Dezember 2024 in den Kellerräumen des Militärkrankenhauses Harasta gefunden. Wo oder woran er genau starb, ist bisher unklar, aber dass er zu jenem Zeitpunkt schon viele Wochen tot war, steht nun fest. Die drei Fotos von ihm in dem Datensatz wurden am 28. September 2024 in Harasta gemacht, alle innerhalb einer Minute. Die Aktennummer des Harasta-Toten Mazen al-Hamada lautete 1174/K.











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