Roman von Raphaelea Edelbauer: Rauschmittel verboten, dafür Pflichtlektüre und Küchendienst

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Raphaela Edelbauer hat seit ihrem Prosadebüt 2017 eine beachtliche schriftstellerische Karriere hingelegt (unter anderen Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, Österreichischer Buchpreis, zwei Nominierungen für den Deutschen Buchpreis); umso symphytischer ist es, dass die Autorin einen Youtube-Channel betreibt, in dem sie wöchentlich „Tipps und Einblicke ins Autor*innenleben“ gibt. Auch wenn der Autorin die Nachwuchsförderung am Herzen liegt, scheinen ihre Ressourcen für das eigene Schreiben glücklicherweise noch nicht erschöpft zu sein: Nun ist ihr fünfter Roman „Die echtere Wirklichkeit“ erschienen.

Er reiht sich nahtlos in die edelbauersche Themenwelt ein: Philosophie und Naturwissenschaft, Österreich und Programmieren. Und auch dieser Roman ist sprachlich anspruchsvoll. Es geht um den Begriff von Wahrheit. Die absolute Wahrheit – so die These – sei mit dem Aufkommen des Konstruktivismus verloren gegangen, denn wenn Wahrheit nur eine soziale Konstruktion, ein bloßes Instrument der Machtausübung sei, dann gehe eine objektive Grundlage, eine geteilte Realität verloren. Viele der postmodernen Krisen ließen sich auf dieses Grundproblem zurückführen. Die Zunahme von alternativen Fakten und Verschwörungstheorien, woraus wiederum das Erstarken populistischer und nationalistischer Kräfte resultiere. „Ohne den Anker eines Wahrheitsbegriffs läuft jede politische Maßnahme ins Nichts.“

Wahrgewordener Albtraum aus WG und Philosophie-Lesekreis

Diese Ausführungen könnten aus einem wissenschaftlichen Essay stammen, sind aber in den Roman eingebettet. Dem erwähnten philosophischen Programm haben sich fünf Figuren der aktivistischen Gruppe Aletheia verschrieben. Sie wollen ihre Theorie mit der Praxis verbinden, indem sie mithilfe von politischem Aktivismus eine „philosophische Revolution“ auslösen. Doch dabei stoßen sie am laufenden Band auf Hindernisse. So einige davon gehören zum täglich Brot aktivistischer Arbeit: Die Gruppe lebt versteckt in einem besetzten Haus und hat einen akuten Mangel an Ressourcen wie Zeit, Geld und anderen Gütern.

Das Cover zu Raphaela Edelbauers neuem RomanDas Cover zu Raphaela Edelbauers neuem RomanKlett-Cotta

Um das bestmöglich zu kompensieren, gibt es strikte Regeln und Tagesabläufe; Rauschmittel und Kontakte außerhalb der Gruppe sind verboten, es gibt Pflichtlektüre und Küchendienst, alle Beschlüsse werden gemeinschaftlich in täglichen Plena getroffen. Was jetzt schon klingt wie ein wahrgewordener Albtraum aus Hardcore-WG und philosophischem Lesekreis, wird durch die Verschrobenheit der Figuren noch verstärkt. Ständig gibt es Konflikte um das Zusammenleben und die Durchführung ihrer philosophischen Anschläge.

Doch neben den aktivistischen Alltagssorgen sieht Aletheia sich mit einem zentralen Problem konfrontiert. Ihre bisherigen Aktionen verpuffen im Grundrauschen der Metropole Wien und schaffen es höchstens als kurze Randmeldung in ein Lokalblatt. Außerdem wirken sie mehr wie Pop-up-Kunst denn wie politischer Aktivismus. Und so sieht sich die Gruppe gezwungen, in die Vollen zu gehen: Der Roman läuft auf die Umsetzung dieser bisher größten Aktion zu.

Das alles wird erzählt von Petra, alias Byproxy. Sie stößt erst später zur Gruppe, wodurch ihr eine Art Außenseiterposition zukommt, die sie allerdings begrüßt. Immerhin bezeichnet sie sich selbst als „alexithym“, also nur eingeschränkt zu Emotionen fähig. Gepaart mit einer gewissen Nerdigkeit (nebenbei programmiert sie ein „Think-Backwards-Game“, in dem es darum geht, ein Geschehen vom Ende her Stück für Stück zu entschlüsseln) und einer tragischen Hintergrundgeschichte (bei einem Autounfall stirbt ihre beste Freundin, und Petra selbst sitzt seitdem im Rollstuhl) ergibt das eine Erzählerin, die vor Ironie, Sarkasmus und Unzuverlässigkeit nur so strotzt.

Ironisch-akademisch, antiquiert

Auch in der Sprache schlägt sich die Eigentümlichkeit der Protagonistin nieder. Der Stil ist zum einen akademisch-antiquiert – „die freche Byproxy hatte nämlich, wie es ihre Art war, beim Abendessen aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht“ – nebst Lexikoneinträgen meist zum Themenfeld Evolutionsbiologie oder Philosophie; und zum anderen durchzogen von Wienerisch und Jugendsprache. Das Ergebnis sind schöne Pointen („es war ein Zeltfest; ich hatte sofort Suizidgedanken“), aber leider auch sprachliche Überfrachtung: „Frühmorgens ist alles voller NPCs. Sie erledigen die notwendigen, aber hässlichen Vorgänge einer Stadt, verborgen wie die Verdauung im Körper eines Säugetiers, ehe die anderen, betuchteren NPCs aus ihren Behausungen kriechen. Der Spieler kennt und meidet sie.“

Auch inhaltlich entsteht ungeheure Dynamik. Sie ergibt sich aus der komplexen philosophischen Grundthematik zusammen mit der spannenden Handlung, die mehrmals überraschende Kehrtwenden macht, und den schillernden Figuren, die sich mal gegenseitig anziehen, mal einander zerfleischen. Leider droht „Die echtere Wirklichkeit“ dadurch stellenweise auszufransen. Das ist schade, da die Anlage vielversprechend ist.

Raphaela Edelbauer: „Die echtere Wirklichkeit“. Roman.
Klett-Cotta, Stuttgart 2025. 448 S., geb., 28,– €.

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