Polio gilt als nahezu ausgerottet. Weil in einigen Ländern aber die Schluckimpfung noch üblich ist, können sich Impfviren verbreiten. Und diese wurden offenbar auch nach Deutschland eingeschleppt. Für Ungeimpfte könnte das problematisch werden.
In Proben aus dem Abwasser vier deutscher Städte sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) Polioviren nachgewiesen worden. Betroffen seien München, Bonn, Köln und Hamburg. Bisher wurden keine Polio-Verdachtsfälle oder -Erkrankungen an das Bundesinstitut übermittelt. Bei den gefundenen Erregern handelt es sich demnach nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern zurückgehen.
Die kursierenden Erreger wurden wahrscheinlich von Menschen eingeschleppt, die in ihrem Land die – vor allem in Afrika und Asien noch übliche Schluckimpfung – erhalten haben. Die Viren können von Geimpften bis zu sechs Wochen lang ausgeschieden werden.
Dauerhafte Lähmung
Das RKI weist darauf hin, dass bei anhaltender Zirkulation des Erregers hierzulande einzelne Erkrankungen unter nicht ausreichend geschützten Menschen möglich sind. Die Wahrscheinlichkeit sei aber aufgrund der allgemein hohen Impfquoten von bundesweit 90 Prozent und guten Hygienebedingungen in Deutschland gering.
Poliomyelitis ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Bestehende Impflücken sollten geschlossen werden, rät das RKI. Medizinisches Personal und Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst sollten jetzt besonders wachsam auf Poliomyelitis-typische Symptomen achten.
„Der Nachweis an verschiedenen Orten weist auf eine Zirkulation dieser Viren hin“, erklärt das RKI. Die Landesbehörden aller Bundesländer und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seien über die Nachweise informiert worden. Weitere Proben würden derzeit noch untersucht. Auch in Spanien (Barcelona) und Polen (Warschau) sei das Virus kürzlich in Abwasserproben nachgewiesen worden.
Erhält jemand die Schluckimpfung, können sowohl die geimpfte Person selbst als auch Kontaktpersonen an sogenannter Impf-Polio erkranken. Symptome dieser seltenen Fälle sind von Infektionen mit „wilden Viren“ nicht zu unterscheiden. Eine fortlaufende Vermehrung der Impfviren birgt das Risiko, dass der abgeschwächte Erreger sich verändert und das Nervensystem infizieren könnte – mit den poliotypischen Lähmungen als mögliche Folge.
Polio ist auch als Kinderlähmung bekannt, weil davon vor allem Kleinkinder von poliotypischen Lähmungen betroffen waren – meist mit bleibenden Schäden fürs ganze Leben. Eine Therapie gibt es nach wie vor nicht.
Verbreitet wird das hochansteckende Virus am ehesten über kontaminierte Hände als sogenannte Schmierinfektion; in Ländern mit unzureichendem Hygienestandard auch über verunreinigtes Wasser. Polio gilt aufgrund engagierter Impfkampagnen seit Jahren als weltweit nahezu ausgerottet. Menschen, die vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind vor der Erkrankung geschützt. In Deutschland werden Babys ab zwei Monaten geimpft.
Polioviren, die von Schluckimpfstoffen stammten, waren in den vergangenen Jahren immer mal wieder auch in anderen urbanen Regionen hoch entwickelter Länder nachgewiesen worden, wie dem US-Bundesstaat New York, London und Jerusalem. Auch Erkrankungen wurden gemeldet. Da eine Infektion nach RKI-Angaben nur in etwa einem von 200 Fällen zu den für Polio typischen irreversiblen Lähmungen führt, und das zudem nur bei Ungeimpften, kann ein solcher Nachweis hunderte Infizierte ohne Symptome in der Region bedeuten.
Das Poliovirus ist ein sogenanntes Enterovirus, das in erster Linie den Verdauungstrakt infiziert. Vor Einführung von Schutzimpfungen gab es allein in Deutschland Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle jährlich. Inzwischen existieren weltweit zwei Arten von schützenden Impfstoffen: eine Schluckimpfung, die abgeschwächte vermehrungsfähige Impfviren enthält (OPV), und ein inaktivierter Polioimpfstoff (IPV), der in den Muskel gespritzt wird. In Deutschland wird seit 1998 ausschließlich IPV-Impfstoff verimpft.
Dass die Schluckimpfung überhaupt noch im Einsatz ist, liegt vor allem an einer Eigenheit der inaktivierten Polio-Impfstoffe: Diese können zwar Erkrankungen sehr gut verhindern, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen, was in Ländern mit niedriger Impfquote gefährlich werden kann.
In Afrika und Asien wird deshalb noch auf die Schluckimpfung gesetzt, die vor Ansteckung und damit vor einer großflächigen Weitergabe schützt. Das – sehr geringe – Risiko eines Impfpolio-Falls wird in Kauf genommen zugunsten einer großflächigen Immunisierung der Bevölkerung.
Das Ziel, nach der Ausrottung der Pocken 1980 auch Polio Geschichte werden zu lassen, wurde bislang verfehlt, auch wenn Polio-Wildviren fast nur noch in Pakistan und Afghanistan zirkulieren. Ein Problem ist, dass Routine-Impfungen wie die gegen Polio in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen wurden. Dadurch stieg auch das Risiko, dass Polio sich international wieder ausbreitet.
dpa/sk