Jonah Ratsimbazafy steht im madagassischen Berg-Regenwald. Von weit entfernt schallt der Gesang der Lemuren die Hänge hinab. Einer Gruppe von Affen, die nur hier auf Madagaskar und auf den ostafrikanischen Komoren-Inseln leben. »Feuchtnasenaffen« werden sie auch genannt – im Gegensatz zu »Trockennasenaffen«, zu denen unter anderem Gorillas, Schimpansen, Orang-Utans und auch Menschen gehören.
Hoch auf den Bäumen sitzen die Tiere mit den runden Augen und der spitzen Nase. Diadem-Sifakas zum Beispiel, sie haben ein teils orangefarbenes Fell und essen gemächlich Blätter. Oder schwarz-weiße Indris, die sich mit gewagten Sprüngen von Baum zu Baum fortbewegen. Ihr Quietschen und Tröten hat unterschiedliche Funktionen. Indris singen zum Beispiel, um den anderen mitzuteilen, wo ihr Revier ist. Oder um Familienmitglieder zu finden, die sich verlaufen haben. Sie singen ihre Lieder allein, zu zweit oder im Chor.

Jonah Ratsimbazafy ist Lemuren-Experte. 108 Arten gibt es auf Madagaskar – mindestens. Aber gut möglich, dass sich im Wald noch weitere verstecken.
Foto: Sergio Ramazzotti / DER SPIEGELRatsimbazafy kann die Gesänge unterscheiden und verstehen. Der Biologe ist Professor an der Universität von Antananarivo in Madagaskar und Spezialist für Artenschutz und natürlich für Lemuren. Zwei Wochen lang lebt Ratsimbazafy nun mit seinem Team im Camp, das sie im Regenwald von Maromizaha im Osten der Insel Madagaskar aufgeschlagen haben. Alle sechs Monate sind die Forscher hier, um den Bestand der Lemuren zu kontrollieren.
Mindestens 108 Lemuren-Arten gibt es auf Madagaskar, 103 stehen auf der Roten Liste der bedrohten Tiere. Also fast alle. Madagaskar, der zweitgrößte Inselstaat der Welt, gilt als einer der Orte, die weltweit am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Böden und Wälder des Landes werden immer trockener – und weil das den Bäumen zusetzt, wird es schwieriger für die Lemuren, Nahrung zu finden.
Foto: artushfoto / Zoonar / picture alliance
Seit Jahrzehnten bestimmen die Lemuren Ratsimbazafys Leben. Zum Dank ziert mittlerweile in Madagaskar sein Konterfei eine Briefmarke. Er gilt als einer der weltweit führenden Wissenschaftler, wenn es um Lemuren geht. »Meine Mission ist es, sie zu retten«, sagt er. »Ich fühle mich wie ihr Vater.« Er steht in dem kleinen Camp und schaut zu, wie die Männer und Frauen aus ihren Zelten kommen, um mit ihm auf die Suche nach den Tieren zu gehen.
Doch die Lemuren haben auch ihm etwas zu geben: »Sie sind meine Therapie«, sagt er. Wann immer es ihm schlecht gehe, fahre er in den Wald. »Wenn ich bei den Lemuren bin, fühle ich mich sofort besser.«
Ratsimbazafy findet, dass Madagaskar von den Lemuren nur profitieren kann. »Wir haben keinen Eiffelturm, keine große Mauer wie die Chinesen, keine Freiheitsstatue. Wir haben die Lemuren.« Die Tiere seien wichtig für den Tourismus, aber auch für die Identität des Landes. Wenn das nur alle Landsleute verstehen würden. Aber die vom Aussterben bedrohten Tiere werden immer noch gejagt, ihr Lebensraum vernichtet, weil der Wald abgeholzt wird.

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Heute jedoch ist der Mann mit dem freundlichen runden Gesicht zufrieden. Ein Waldführer hat ihm gerade berichtet, er habe Exemplare einer bestimmten Lemuren-Art dabei beobachtet, wie sie mineralstoffreiche Erde fraßen. Das sei der Forschung bisher unbekannt gewesen, sagt der Professor.
Während der zwei Wochen ziehen Ratsimbazafy und sein Team durch den Regenwald, katalogisieren das Leben, das sich auf und unter den Ästen abspielt. Aber sie möchten die Menschen auch für den Lemuren-Schutz gewinnen. In Schulen und Dörfern klären sie deshalb über die Folgen der Abholzung auf und darüber, warum die Feuchtnasenaffen nicht gejagt werden sollen.

In den Schulen erklärt der Forscher Jonah Ratsimbazafy den Kindern, warum es so wichtig für ihr Land ist, die Lemuren zu schützen.
Foto: Sergio Ramazzotti / DER SPIEGELDrei bis dahin unbekannte Lemuren-Arten haben seine Teams schon entdeckt. Die bislang letzte 2020, sie trägt nun seinen Namen, Microcebus jonahi. Ratsimbazafy glaubt, dass es noch weit mehr geben könnte. »Aber sie könnten aussterben, bevor wir sie entdecken.«
Helle Vogelrufe hallen durch den Wald, einer der Mitarbeiter versorgt gerade einen Skorpionstich auf seinem Arm, und Ratsimbazafy tritt an den Hang am Rande des Camps.
An diesem Tag will er die Lemuren auf einem bestimmten Berghang zählen. Vorsichtig setzt er Fuß für Fuß auf dem nassen Boden voreinander. Der Regen der Nacht tropft von ausladenden Farnblättern. »Die Lemuren«, erklärt Ratsimbazafy, »tragen die Samen vieler Bäume durch den Wald. Bestimmte Samen keimen nur, wenn sie durch den Verdauungstrakt der Feuchtnasenaffen gewandert sind. So hängt alles zusammen.«

Zwei Wochen lang lebt Jonah Ratsimbazafy im Wald-Camp. Seine Beobachtungen hält er in einem Buch fest.
Foto: Sergio Ramazzotti / DER SPIEGELRatsimbazafy läuft über ein paar Bretter, die zu einer Brücke gezimmert über einem Bach liegen, und folgt den Rufen der Lemuren. Feuchte Erde klebt an seinen festen Schuhen. Unterarmlange Chamäleons, Frösche und Spinnen sitzen auf den Ästen des Dickichts neben dem schmalen Pfad. Langsam schleppt er sich mit seinen Begleitern einen steilen Hang hinauf. Dann verlassen sie den Weg und laufen durch dichtes Geäst.
Dort findet Ratsimbazafy schließlich zwei Indris. Große Lemuren, das Fell schwarz und weiß. Sie sitzen hoch oben in den Ästen und schauen den Professor an. Er notiert sich Zeit und Standort in einem Notizbuch.
Aus den gesammelten Daten wird ein Programm später berechnen, wie viele Lemuren es hier ungefähr gibt. Bisher machen die Zahlen Ratsimbazafy Mut: Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen wächst die Population hier wieder an.
Dieser Artikel erschien im DEIN-SPIEGEL-Sommerheft 2025.

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