© Timo Lenzen für ZEIT ONLINE
Fünf Prozent des BIP soll die Nato jährlich ins Militär investieren, eine Billion Euro mehr als jetzt. Braucht sie zur Verteidigung wirklich so viel Geld?
23. Juni 2025, 14:29 Uhr
Am Ende könnte es eine bloße Formalität sein, wenn die Staats- und Regierungschefs der Nato bei ihrem Gipfel in Den Haag die größte Aufrüstungsinitiative in der Geschichte des Militärbündnisses beschließen. Am Sonntag berichteten mehrere Nachrichtenagenturen übereinstimmend aus Diplomatenkreisen: Die Nato-Partner haben sich bereits auf das von US-Präsident Donald Trump ausgegebene Ziel geeinigt, insgesamt fünf Prozent der Wirtschaftsleistung für Rüstung und militärisch nutzbare Infrastruktur sowie Zivilschutz einzusetzen.
Die Zahl ist enorm. Sie bedeutet fast eine Billion Euro zusätzlicher Rüstungsausgaben pro Jahr. Eine Summe, die sogar den derzeitigen Rüstungshaushalt der USA überragt. Statt des bisherigen Zwei-Prozent-Ziels sollen dann in die reinen Militäretats – Zivilschutz und Infrastruktur also ausgenommen – 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) fließen. Das entspricht einer Steigerung von 70 Prozent. Nicht nur am politischen Rand wirft das die Frage auf: Ist das wirklich notwendig? Investieren die Nato-Partner denn nicht schon genug in ihre Armeen?
2024 gaben die 32 Nato-Staaten (inflationsbereinigt zum Vorjahr) knapp 1,46 Billionen US-Dollar für Rüstung aus. Bereits in diesem Jahr dürften es mehr werden: Generalsekretär Mark Rutte meldete erst vor wenigen Tagen, dass das 2014 gesetzte Zwei-Prozent-Ziel 2025 erstmals erreicht werde. Fast 1,5 Billionen Dollar sind eine immense Summe – wie auch der Vergleich zu China und Russland zeigt, die auf der Liste der Staaten mit den größten Militäretats auf den Plätzen zwei und drei hinter den USA liegen. 320 Milliarden Dollar gab China im vergangenen Jahr nach Angaben des Friedensforschungsinstituts Sipri für Rüstung aus, Russland 150 Milliarden Dollar. Zahlen, mit denen auch Kritiker einer weiteren Aufrüstung der Nato argumentieren: Selbst zusammengenommen geben die beiden von dem Militärbündnis als Messlatte betrachteten Staaten 70 Prozent weniger für Rüstung aus. Andersherum: Die Nato-Militäretats übersteigen die Budgets von Russland und China um das Dreifache. Wozu sollen sie nun fünfmal größer werden?
Diese Frage ist berechtigt, ignoriert allerdings zwei Tatsachen, die bei der Betrachtung der nackten Zahlen auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind. Eine von ihnen: Russland und China holen auf, und zwar in hohem Tempo. In den vergangenen zehn Jahren sind die Ausgaben der Nato um 30 Prozent gestiegen (auch durch die Aufnahme von vier neuen Mitgliedern). Die Ausgaben Chinas stiegen im selben Zeitraum um mehr als 70 Prozent, Russland verdoppelte seinen Militäretat. Sollte die Nato das Verhältnis wieder auf fünf zu eins anheben, täte sie kaum mehr, als den Stand von 2014 wiederherzustellen. Und dabei ist noch nicht eingerechnet, dass die jeweiligen Etats Russlands und Chinas ebenfalls weiter steigen dürften.
China und Russland rüsten mehr als es scheint
Doch auch das ist eine trügerische Rechnung. Denn ein Faktor wird bei der Gegenüberstellung der Rüstungsetats oft ausgelassen: die Kaufkraft. Eine Milliarde für Rüstungszwecke kann in den USA weniger Waffen, Ausrüstung und Ausbildungszeit finanzieren als in Europa – und in Europa deutlich weniger als in Russland oder China. Letztere erhalten mehr Kampfkraft pro investierten Dollar. Und zwar viel mehr. Das verdeutlichte zuletzt der britische Economist in einer Rechnung, welche die unterschiedliche Kaufkraft der jeweiligen militärischen Budgets einbezog.
Während die Nato 2024 nominell dreimal mehr Geld in Verteidigung investierte als Russland und China, waren es demnach kaufkraftbereinigt nicht mal mehr doppelt so viel. Russlands Rüstungsetat von knapp 150 Milliarden Dollar hatte dem Economist zufolge eine Kaufkraft von 430 Milliarden Dollar in US-Preisen. Das Verhältnis zwischen den europäischen und russischen Rüstungsausgaben liegt, so gesehen, nicht bei drei zu eins, sondern bei etwa 1,7 zu 1. In Geld gemessen wird die Übermacht der Nato unter Einbezug des Faktors Kaufkraft zu einem immer noch deutlichen, aber alles andere als uneinholbaren Vorsprung.
Und selbst diese kaufkraftbereinigten Zahlen könnten trügen. So gibt es komplexere Berechnungen, wonach dieser Faktor allein nicht ausreicht, um tatsächliche Vergleichbarkeit zu schaffen: Im Rüstungsbereich seien die Kaufkraftverhältnisse zwischen verschiedenen Volkswirtschaften andere als im zivilen Sektor, schreibt der Ökonom Peter E. Robertson von der University of Western Australia.
Nach einigen Schätzungen könnten die bereinigten Rüstungsausgaben Russlands und Chinas jenen der USA nicht nur nahekommen, sondern sie sogar übersteigen – und zwar schon jetzt. Hinzu kommt, dass im Fall Russlands etwa große Teile der Personalkosten für das Militär am Verteidigungsetat vorbeilaufen. Demgegenüber geben einige Nato-Länder mehr als die Hälfte ihres Militäretats für den Sold aus. Wladimir Putin könnte es durchaus ernst gemeint haben, als er vor wenigen Tagen sagte, die Aufrüstung der Nato sehe er nicht als Bedrohung.
Vor allem die deutschen Rüstungsausgaben lagen in den vergangenen Jahrzehnten auf einem historischen Tief. 1994 sanken sie erstmals in der Nachkriegsgeschichte auf einen Anteil von 1,5 Prozent des BIP. In den Folgejahren nahmen sie weiter ab, bis sie zwischen 1,1 und 1,3 Prozent ein Plateau erreichten. Die Rückkehr des Phänomens Eroberungskrieg nach Europa mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 änderte daran nichts; und selbst 2022, nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine – und mitten in der vom damaligen Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" –, blieb der Militäretat unter der Schwelle von 1,5 Prozent.
Damit lag er lange Zeit weit unter dem Wert, der für Westdeutschland bis zur Wiedervereinigung Standard war: zwischen drei und vier Prozent in den Sechzigerjahren und drei Prozent in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren. Dieser Verweis dient nicht dazu, die derzeitige Lage mit jener im Kalten Krieg gleichzusetzen. Sondern nur der Klarstellung: Das war das Ausgabenniveau, auf dessen Grundlage Deutschland seinerzeit als verteidigungsfähig galt. Und auf dessen Grundlage Willy Brandt seine auf Ausgleich ausgerichtete Ostpolitik aus einer Position der Wehrhaftigkeit heraus betreiben konnte.
Politische Ziele sind Meinungsfrage, Kosten sind Fakt
Ob mehr gerüstet werden soll oder nicht, ist eine Meinungsfrage. Was hingegen eine Tatsache ist: 2022 bezeichnete die Nato in einer Überarbeitung ihres strategischen Konzepts (PDF) Putins Russland als "größte Bedrohung" für die Sicherheit in Europa. Das ist der politische Kontext, in den die Festlegung auf höhere Rüstungsausgaben fällt. Die realistische Fragestellung ist deshalb nicht, ob die Verteidigungsfähigkeit der Nato steigen soll – das ist beschlossene Sache. Sondern, ob es dazu wirklich derartige Summen braucht.
Es wäre allerdings eine allzu vereinfachte Sichtweise, Verteidigungsfähigkeit einzig an den Summen zu messen, die sie kosten soll. Sicherheits-, Außen- und Finanzpolitiker verweisen nicht umsonst darauf, dass die Diskussion um Prozentwerte die tatsächlichen Entscheidungsprozesse in der Nato verschleiert. "Es muss am Anfang immer die Frage stehen: Welche Fähigkeiten brauchen wir", sagte SPD-Chef und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil kurz vor dem Gipfel.
Mit "Fähigkeiten" werden im militärischen Kontext tatsächliche Fähigkeiten bezeichnet, etwa jene einer Armee, sich gegen Luftangriffe auf Kurzdistanz zu verteidigen, was die Bundeswehr mit der Abschaffung der Heeresflugabwehr 2012 etwa einbüßte. Doch breiter definiert bezeichnet der Begriff auch verfügbare Waffensysteme, Munition für sie und die reine Truppenstärke.