Nichts ist so, wie es mal war, seitdem Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat. Auch in Deutschland nicht. Seit Monaten ringen Politiker um eine Lösung, wie sie den Wehrdienst reformieren und für einen Personalaufwuchs bei der Bundeswehr sorgen könnten. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, doch wie lange das so bleibt, kann vorerst keiner sagen. Vergangene Woche erst lagen Union und SPD sich wegen eines Kompromisses für eine Wehrpflicht per Losverfahren in den Haaren. Ein hochdynamisches Thema.
Für manche vielleicht zu dynamisch. So klingt es zumindest aus den Reihen der Friedensgesellschaften. „Diese Diskussionen und die Ungewissheit, was noch kommen kann, verunsichern viele Menschen“, sagt Martin Tontsch. Er ist Pfarrer in Nürnberg und Vorstandsmitglied bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK). Der Beratungsbedarf in seiner Organisation habe sich im Vergleich zum Vorkriegszeitraum verdreifacht. Besorgte Eltern riefen an, aber auch junge wie mittelalte Leute. „Sie fragen sich, ob ihr früherer Kriegsdienstverweigerungsantrag (KDV-Antrag) noch gilt, oder was sie tun müssten, um nicht einberufen zu werden.“ Mit Anfragen „geradezu geflutet“, werde auch die älteste der deutschen Friedensgesellschaften. Im September registrierte die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) rund 125 000 Aufrufe auf der eigenen Homepage. Im August seien es noch 55 000 gewesen und im Mai etwa die Hälfte davon, sagt deren politischer Geschäftsführer Michael Schulze von Glaßer.
Mehr als 3000 Menschen haben bis Ende August dieses Jahres bereits einen KDV-Antrag gestellt. Vor Ausbruch des Ukrainekrieges verzeichnete das Karrierecenter der Bundeswehr 200 solcher Anträge.
Was bewegt Menschen, die den Dienst schon heute verweigern, obwohl die Wehrpflicht noch immer ausgesetzt und ein neues Gesetz nicht einmal erfolgreich durch den Bundestag gegangen ist?
„Die Vorstellung, dass Deutschland in einen Krieg verwickelt werden könnte, ist nicht mehr undenkbar“, sagt ein 45 Jahre alter Vater zweier Kinder. Er soll hier Thomas Hall heißen, vor wenigen Wochen hat er seinen Dienst an der Waffe verweigert. Weil er den Erfolg seines Antrags nicht gefährden möchte, will er über seine Beweggründe am Telefon nur anonym mit der Süddeutschen Zeitung sprechen.
In den vergangenen drei Jahren habe er sehr viel über Kriege nachgedacht und sei zu der Erkenntnis gelangt, dass er selbst weder eine Waffe bedienen noch einen Beitrag dazu leisten möchte, dass Menschen durch sein Handeln sterben.
„Dass die Bundeswehr nicht der richtige Ort für mich ist, habe ich eigentlich in der Grundausbildung verstanden“, sagt der studierte Ökonom. Zum Wehrdienst kam er in den 2000er-Jahren als dieser noch verpflichtend war. „Die Armee bringt einen dazu, auch ohne akute Not, ganz anders über Kriege und Menschen nachzudenken“, war seine Beobachtung. „Wer in Menschen nur noch Feinde sieht, verliert die Hemmung, Gewalt anzuwenden“, sagt er. Und weil er merkte, sich dieser Denkweise nur schwer entziehen zu können, suchte er schon damals den Standortpfarrer auf und ließ sich in eine waffenferne Division versetzen.
„Niemand darf gezwungen werden“
Solche Einschnitte in der Biografie sind auch für den KDV-Antrag bedeutsam. Denn Reservisten wie Thomas Hall müssten logischerweise einen höheren Aufwand betreiben, um ihre Entscheidung zu begründen, sagt Pfarrer Martin Tontsch. Schließlich hätten sie mit dem Grundwehrdienst gezeigt, dass sie das Militär nicht grundsätzlich ablehnen, sonst hätten sie eher Zivildienst geleistet. Ansonsten aber gelten die Hürden für eine Antragstellung als nicht besonders hoch. Die Verweigerung ist ein in Artikel 4 Absatz 3 verankertes Grundrecht. Es bestimmt: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Genaueres ist im Kriegsdienstverweigerungsgesetz geregelt. Es muss glaubhaft und ausführlich begründet werden, warum der Dienst an der Waffe nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbart werden kann. Entscheidend ist die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung – nicht, ob andere sie für richtig halten.
Viel bedeutsamer gewichtet Thomas Hall allerdings nicht seine Erfahrungen vor 20 Jahren, sondern seine Beweggründe heute. Er erzählt, vor einiger Zeit habe er mit seiner Familie in Japan die Gedenkstätte von Hiroshima besucht. Im August 1945 warfen die USA zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ab und beendeten damit den Pazifikkrieg. Auswertungen offizieller militärischer Dokumente legen nahe, dass die topografischen Gegebenheiten der Städte sowie die Wetterlage bei der Zielauswahl eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Hiroshima lag so, dass sich die Druckwelle gleichmäßig über die ganze Stadt ausbreiten konnte, was für die anschließende Messung der Zerstörung von Bedeutung war, heißt es in den Dokumenten.
„Die Banalität, mit der Hunderttausende Menschen der US-Luftwaffe zum Opfer fielen, hat mich einfach nur schockiert“, sagt Hall. Nichts liege ihm ferner, als Menschen für ein höheres Ziel, selbst wenn es so etwas wie die Beendigung des Zweiten Weltkrieges sei, zu opfern. Doch dieser Zweck-Nutzen-Gedanke hafte jedem Krieg an. „Wer garantiert, dass Hiroshima ein singuläres Ereignis bleibt?“, fragt er.

Zur Beratung über seinen Antrag hat er sich an die EAK gewandt. In Deutschland gibt es ein Netz aus kirchlichen, lokalen Beratungsstellen und überregionalen Initiativen für die Kriegsdienstverweigerung. Während die DFG-VK und „Internationale der Kriegsdienstgegner*innen“ (IDK) einen aktivistischen Pazifismus vertreten, der auf Abrüstung und zivilen Ungehorsam setzt, sieht die EAK ihren Schwerpunkt in der seelsorgerischen Beratung. Das eigene Selbstverständnis verändert die Art, wie die Organisationen arbeiten. In einer Pressemitteilung vergangene Woche machte die IDK der Bundesregierung eine Kampfansage: Sie werde alles in ihren Kräften Stehende tun, „damit die Wehrdienstreform an der Verweigerung der Betroffenen und an der weitverbreiteten Skepsis in der Bevölkerung scheitert“. Die EAK sieht sich hingegen in einer vermittelnden Rolle. „Aus einem Beratungsgespräch könnte genauso folgen, dass man zur Bundeswehr geht“, sagt Pfarrer Martin Tontsch.
Etwas, das für Thomas Hall nicht mehr infrage kommt. Inzwischen ist der Familienvater davon überzeugt, dass es im Krieg unmöglich ist, humanitäre Mindeststandards einzuhalten. Selbst Regeln, auf die man sich mit „großer Mühe“ einst verständigt habe, wie keine Landminen zu verwenden, würden nun über Bord geworfen, weil mehrere Länder mit einer Grenze zu Russland ihren Austritt aus der Ottawa-Konvention zum Landminen-Verbot angekündigt haben.
Die meisten Beratungsstellen raten, wer 2008 geboren und fest entschlossen sei, einen KDV-Antrag zu stellen, solle dies besser vorsorglich schon jetzt tun. Sollte das Wehrdienstmodernisierungsgesetz verabschiedet werden, wie von Verteidigungsminister Boris Pistorius vorgeschlagen, würden wehrbereite Männer des Jahrgangs 2008 übernächstes Jahr gemustert werden. Zur Musterung geladen wird auch, wer den KDV-Antrag stellt. Denn verweigern können nur jene, die grundsätzlich überhaupt für den Wehrdienst geeignet wären. Ob das so ist, stellt die Bundeswehr fest, und das Bundesfamilienministerium entscheidet über die KDV-Anträge der Wehrfähigen.
Im Spannungs- und Verteidigungsfall hat der Antrag keine aufschiebende Wirkung
Ob die Musterung also schon jetzt oder erst 2027 erfolge, wie nach Pistorius’ Gesetzentwurf vorgesehen, dürfte für die Betroffenen keine besondere Rolle spielen, argumentiert der politische DFG-VK-Geschäftsführer Michael Schulze von Glaßer. Für eine frühzeitige Antragstellung spreche aus seiner Sicht die bislang hohe Anerkennungsquote und dass der Andrang sicherlich größer werde, wenn ein neues Gesetz in Kraft trete. Zudem dürfe eine Person nicht zum Wehrdienst eingezogen werden, solange über ihren KDV-Antrag noch nicht entschieden wurde. Das gilt aber nur in friedlichen Zeiten. Denn im Spannungs- und Verteidigungsfall hat der KDV-Antrag keine aufschiebende Wirkung.
Eine grundsätzliche Frage zur Verweigerung des Dienstes an der Waffe bleibt aber noch offen. Was sagt Thomas Hall dazu, dass im Ernstfall andere Menschen sein Haus, seine Frau und Kinder verteidigen würden? „Ich will kein Trittbrettfahrer sein“, sagt er. „Ich bitte niemanden, zum Militär zu gehen.“ So sei es nun mal in einer Gesellschaft, dass es Teilnehmende und Verweigernde gebe – der KDV-Antrag sei eine höchstpersönliche Gewissensentscheidung. Er habe für sich entschieden, dass er seinen Kindern nicht die Verteidigung der Heimat schulde, sondern einen Beitrag für Frieden und Gewaltfreiheit.












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