„Königin Esther“ von John Irving: Wer nicht in den Krieg will, muss schwängern oder das Knie opfern

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Wenn man weiß, dass John Irving seine Arbeit am nächsten Roman immer mit dem Schreiben des letzten Satzes beginnt, ist man versucht, auch beim Aufschlagen von „Königin Esther“ gleich zum Ende zu blättern. Als vorbildlicher Leser unterdrückt man den Drang; denn hätte ein Schriftsteller gewollt, dass man seinen letzten Satz zuerst liest, hätte er ihn an den Anfang gestellt. So also beginnt die Geschichte mit den Bürgern der Stadt Pennacook in New Hampshire. Wer hier in Neuengland etwas auf sich hält, kann seine Ahnenreihe bis zu den ersten Siedlern von der „Mayflower“ zurückverfolgen. Die Winslows könnten das, legen aber keinen großen Wert darauf.

„Wenn es um deine Vorfahren geht, steht dir weder Anerkennung zu, noch trifft dich irgendwelche Schuld – man kann sich seine Eltern schließlich nicht aussuchen“, wird Thomas Winslow später einmal seinem Enkel James erklären. Thomas lehrt am örtlichen College eng­lische Literatur, seine Frau Constance arbeitet als Bibliothekarin. Zusammen­gebracht hat die beiden ihre Leidenschaft für die Literatur. Den Bürgern der Kleinstadt Pennacook sind sie schon deshalb suspekt.

Der Umstand, dass Thomas und Constance obendrein darauf bestehen, nicht nur ihren drei Töchtern Faith, Hope und Prudence höhere Bildung zu ermög­lichen, sondern auch deren drei Kindermädchen aufs College zu schicken, tut sein Übriges. Schnell bemerken die Nachbarn, dass jedes der Kindermädchen aus einem Waisenhaus stammt, was das Misstrauen nur noch vergrößert („wie so viele Menschen in Kleinstädten in Neuengland hatten sie irgendwo etwas darüber gehört, und was sie irgendwo gehört hatten, genügte ihnen“). Aber Thomas und Con­stance scheren sich nicht ums Gerede, vielmehr fordern die beiden es noch heraus, etwa wenn der Englischlehrer seine öffentlichen Vorträge über die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts mit Details zur Geschichte der Emanzipation und der Abtreibung spickt.

Die Engstirnigkeit der Puritaner

Zum Kinderkriegen haben Thomas und Constance ihre eigenen Ansichten, und die weichen von den Moralvorstellungen der Bürgerinnen in Pennacook ab: „Die Winslows waren der Ansicht, dass denjenigen, die gegen die Abtreibung in den Kreuzzug zogen, egal war, was mit dem ungewollten Kind geschah, zumindest nachdem es auf der Welt war. Diese Kreuzzüge interessieren sich nur dafür, die Mutter abzustrafen.“ Die Engstirnigkeit der Puritaner hat sich also bis nach dem Ersten Weltkrieg gehalten – zu dieser Zeit lernen wir die Winslows kennen. Als Constance ein viertes Mal schwanger wird, beschließt das Paar, abermals eine Waise aufzunehmen. Die Suche dauert, führt die Eheleute fast bis nach Maine.

 „Königin Esther“. Roman.John Irving: „Königin Esther“. Roman.Diogenes Verlag

Hier zeigt sich Irvings elegante Erzählstruktur: Ein Waisenhausarzt bittet die Winslows, ihre Familiengeschichte zu beleuchten. In Briefen legen sie alles offen, von ihren finanziellen Verhältnissen bis zum Kennenlernen während eines Sommerurlaubs im Teenageralter, als sie beide lieber mit Büchern am Strand saßen, als Bällen hinterherzujagen. Geschickte Rückblenden, die Figuren bis ins kleinste Detail ausleuchten.

Irving hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass seine größte Bewunderung Charles Dickens gilt. Wie sein Vorbild nimmt er sich für die Entwicklung seiner Figuren Zeit. Esther, die dem Roman den Titel gibt, taucht erst nach gut einem Drittel des Buches auf. Sie ist die Waise, die Thomas und Constanze in ihrem Haus aufnehmen, damit sie sich als neues Kindermädchen um das Baby Honor, die vierte Tochter, kümmert. Natürlich soll auch diese junge Frau etwas lernen, aber sie wird den Winslows mehr beibringen, als sie ahnen. Esthers Mutter war Jüdin und kam bei einem antisemitischen Angriff in Amerika ums Leben. Noch bevor sie erwachsen ist, hat Esther gelernt, mit Anfeindungen umzugehen – und sie sucht nach ihrer Identität, was in Neuengland gar nicht so einfach ist. Die Winslows helfen nach Kräften, bringen Esther mit den wenigen jüdischen Familien vor Ort in Kontakt. Esther belegt Deutsch- und Hebräischkurse, träumt davon, Jerusalem zu besuchen. Zuvor will sie nach Wien, in die Stadt, aus der ihre Familie kam. Jahrzehnte später wird Thomas’ Enkel James sich auf die Spuren dieser Frau begeben.

Knieoperation gegen den Wehrdienst in Vietnam

Irving spannt den Bogen seiner Erzählung über das zwanzigste Jahrhundert, historische Wegmarken blitzen als zeit­liche Eckpfeiler auf (James etwa wird von Kennedys Ermordung in einem Wiener Café erfahren), die große Politik wird im Privaten konkret. So versucht James’ Mutter alles daran zu setzen, ihren Jungen vor dem Wehrdienst in Vietnam zu bewahren – selbst wenn das eine Meniskusoperation erfordern sollte: „Honor fand, es gab keine bessere Möglichkeit. Die Operation richtet ziemlichen Schaden an; aus der Perspektive einer liebenden Mutter schrie sie geradezu nach Wehruntauglichkeit.“

Lieber wäre der liebenden Mutter nur noch, der Sohn würde eine Mitstudentin schwängern, um sich dank familiärer Verpflichtung vor der Ein­berufung drücken zu können. Honors fixe Idee führt Irving genüsslich aus, gestaltet die daraus resultierenden Verwicklungen für James zunächst als Witz, der langsam ernst wird. James obliegt es dabei, sich zu emanzipieren und seinen eigenen Weg zu finden.

„Königin Esther“ erzählt von der Suche nach Identität, von der Herausbildung eigenständiger, starker Personen, die sich aus Rollenbildern befreien und den Mut haben, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Liebe zur Sprache und zur Literatur spielt bei diesem Entwicklungsprozess eine große Rolle. Nicht nur wenn der Englischlehrer Thomas Vorträge hält, lässt Irving diese Figur Liebeserklärungen ans Schreibtalent der Brontë-Schwestern oder George Eliots abgeben. Es sind vor allem die Gespräche mit dem Enkel James, bei denen sich die Interpretation und Sprachanalyse von Dickens-Romanen gleich über mehrere Seiten erstreckt.

Man darf Thomas wohl als Sprachrohr des Autors sehen, wenn er über Dickens sagt: „Er übertreibt es mit den Satzzeichen! So sorgt er dafür, dass man lange und potentiell schwierige Sätze langsamer liest, dafür fallen sie einem leichter. Seine Satzzeichen sind eine Art Regieanweisung.“ Beide Sätze bedienen sich genau jener sprachlichen Mittel, die hier an Dickens gelobt werden. (Dass dies in deutscher Übersetzung ebenso funktioniert, liegt an Peter Torberg und Eva Regul.) Nur die Härte der Kritik an sozialen Verhältnissen überlässt Irving dann doch dem Vorbild, sein Blick auf die Welt sieht die Ungerechtigkeiten, er beschreibt sie aber lieber mit sanftem Humor – das liest sich sehr gut, bis zum letzten Satz.

John Irving: „Königin Esther“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg und Eva Regul. Diogenes Verlag, Zürich 2025. 553 S., geb., 32,– €.

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