Vor einem Jahr ist das Assad-Regime gefallen. Islamistische Einheiten sind von Idlib über Aleppo weiter Richtung Damaskus marschiert. Drusische Einheiten haben sich von Suwaida auf den Weg in die Hauptstadt gemacht. Assad währenddessen hat sich zum Luftwaffenstützpunkt Hmeimim begeben, ist dort in sein Privatflugzeug gestiegen und mit dem Privatflugzeug nach Russland geflogen. Und so sind 60 Jahre Baath-Diktatur, 54 Jahre Assad zu einem Ende gekommen. Wobei vom Ende nicht die Rede sein kann.
Das Land liegt in Trümmern. Die Häuser kann man vielleicht wieder aufbauen. Aber was ist mit all dem beschädigten Leben, das dieses Regime hinterlassen hat? Wer gibt einem den ermordeten Freund zurück, die gestohlenen Jahre im Exil, in der Angst, im Gefängnis?
Vor einem Jahr bin ich mit meinem Vater nach Syrien gereist. Es war wieder möglich, nachdem das Regime gefallen war. Die neuen Herrscher, Islamisten, waren zwar schon da, aber in der Übergangsphase war ihre Macht noch nicht gefestigt. Ich habe darüber geschrieben und von einer „Rückkehr“ gesprochen. Jetzt denke ich, dass es vielleicht eher ein Abschied war. Zwei große Massaker an Minderheiten hat es seitdem gegeben: im März an den Alawiten an der Küste, im Juli an den Drusen in Suwaida und viele „kleinere“ Vorfälle.
Ein riesiges Banner mit den Porträts al-Golanis
Der selbst ernannte Übergangspräsident Muhammad al-Golani hat nun seine Siegesrede wie schon vor einem Jahr nicht auf einem öffentlichen Platz, sondern in der Umayyaden-Moschee gehalten. In verschiedenen Städten gab es Militärparaden, bei denen auch international sanktionierte Kriegsverbrecher wie Abu Amsha nicht fehlen durften. In Tartus hat man zur Feier des Tages ein riesiges Banner mit den Porträts al-Golanis, des Emirs von Qatar, des saudischen Kronprinzen bin Salman, Erdogans und Saddam Husseins gehisst. Zu jedem der Männer in dieser illustren Runde ließe sich einiges sagen. Nur so viel: Was für ein Signal an die Kurden soll das sein, denen man ständig erzählt, sie sollen sich in das neue Syrien integrieren, wenn man das Bild eines Diktators aufhängt, der für den Tod von über 150.000 Kurden verantwortlich ist?
Und dieses Banner in Tartus ist keine Ausnahme. Bilder von Saddam Hussein habe ich auf meiner Reise vor einem Jahr unzählige gesehen, in Damaskus, Hama, Homs, am meisten in Idlib, der Hauptstadt der Islamisten. Auch in Berlin wurde der Sturz des Assad-Regimes – und der Sieg der Islamisten – gefeiert. Rund 2000 Menschen zogen vom Alexanderplatz zum Pariser Platz. Sie skandierten „Allahu Akbar“. Auch hier war eine Flagge mit dem Konterfei Saddam Husseins zu sehen. Jugendliche posierten daneben mit erhobenen rechtem Zeigefinger, eine Geste der Islamisten.
Wir leben in einem Zeitalter der Straflosigkeit
Als ich die Bilder aus Syrien und Berlin sah, habe ich eine große Einsamkeit verspürt. Die Deutsche Botschaft in Syrien postete auf Instagram ein groteskes Reel voller Fotos, auf denen den neuen Machthabern – verantwortlich für den Tod von Drusen, Jesiden, Alawiten und Christen – die Hände geschüttelt werden. Wir haben verloren, dachte ich. Wir, das sind alle Syrer oder Nichtsyrer, die auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehofft hatten. Vor ein paar Tagen zählte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte 11.439 getötete Menschen in Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes, darunter 8835 Zivilisten.
Wir leben in einem Zeitalter der Straflosigkeit. Der Schlächter Assad hat politisches Asyl in Moskau bei dem Schlächter Putin erhalten, wo er seine Tage angeblich mit Computerspielen verbringt. Der Schlächter Golani ist in den frei gewordenen Diktatorenpalast gezogen. Es gibt aber einen Unterschied: Auf Assad hat die internationale Justiz so wenig Zugriff wie auf Putin. Auch politisch werden sie vom Westen zu Recht isoliert und sanktioniert.
Al-Golani und seine Männer hingegen hofiert man. Man will abschieben, erhofft wohl auch, wirtschaftlich zu profitieren, oder hat einfach keine Lust, sich weiter mit Syrien zu beschäftigen. Und das, obwohl die HTS, deren Anführer al-Golani war und die mittlerweile regulärer Teil der syrischen Armee ist, durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Terrororganisation gelistet wurde. Zahlreiche Unterstützer der HTS wurden in den letzten Jahren von deutschen Gerichten verurteilt. Eine Abkehr weder von der islamistischen Ideologie noch der Praxis ließ sich auch nach der Machtübernahme nicht feststellen.
Davon, dass al-Golani seinen Bart gekürzt hat, seinen Kampfnamen abgelegt und öffentlich mit seiner zwar Kopftuch, jedoch nicht Niqab tragenden Gattin Latifa al-Droubi auftritt, lässt man sich bereitwillig blenden – wie man sich in der Vergangenheit auch vom freundlichen Gesicht von Asma al Assad, der „Wüstenrose“ („Vogue“), hat blenden lassen. Die Proteste gegen Assad 2011 begannen mit dem Ruf nach Freiheit, Würde, Demokratie, Menschenrechten. Das sind universalistische Werte. Im Bürgerkrieg haben Islamisten nicht nur Assad, sondern auch alle, die diese Werte vertraten, bekämpft. Heute, 14 Jahre später, verrät der Westen diese Werte, indem er die Islamisten hofiert.

vor 2 Tage
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