Katja Erfurth in Dresden: Psychogramme in wenigen Schritten

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In Dresden kommt in einem neuen Tanztheatersolo die Kunst zweier Frauen auf beeindruckende Weise auf der Bühne zusammen. Maxie Wander heißt die eine. Als ihr Buch, von dessen Ideen und Geschichten das Tanzstück „Aber ich höre nicht auf, solange ich kriechen kann“ inspiriert ist, erschien, war die andere, die Tänzerin und Choreographin Katja Erfurth, sechs Jahre alt. Zwei Frauen, zwei Generationen, verbunden durch ihr Thema – die Geschichte des Lebens von Frauen in der DDR. Beinahe fünfzig Jahre liegen zwischen dem Erscheinen des Buches und der Premiere des Tanzstücks. Das Solo spiegelt den historischen Abstand und rührt tief an die jüngere Geschichte. Es zeichnet Frauenporträts, die einerseits Geschichten von vor einem halben Jahrhundert bergen, andererseits so existenziell wie gegenwärtig wirken.

Was hatte die Schriftstellerin hinterlassen, das so bewegte? Was machte sie zu der Chronistin der DDR der Siebzigerjahre? Maxie Wander und Fred Wander waren ein österreichisches Schriftstellerpaar, das 1958 eine ungewöhnliche Entscheidung traf: Es zog in die DDR und blieb da. Maxie Wander wurde nur 44 Jahre alt, sie starb im November 1977 in Kleinmachnow. Geschrieben hatte sie Drehbücher, Reportagen und Geschichten, auch als Fotografin hatte sie gearbeitet. Kurz vor ihrem Tod erlebte sie noch die Veröffentlichung ihres letzten Buchs, dessen Titel einem alten Lied fahrender Sänger entnommen war. „Guten Morgen, du Schöne“ heißt es, und darin singt ein Mann von der Liebe zu einer Frau und endet mit einer Gewaltandrohung für den Fall, dass seine Schöne ihn, den Liebhaber, versetzen sollte: „Ich warte auf dich im Wald. / Mit einem Zelt ungeborener Kinder. / Mit Nachtigallen und einer Hyazinthe.“ So lockt er sie, aber für den Fall, dass sie nicht zur Verabredung erscheint, hat er Furchtbares vor. „Kommst du nicht, / ziehe ich das Messer aus dem Brot, / wische die Krumen vom Messer / und treffe dich mitten ins Herz.“

Mit dem Abdruck des Liedtexts auf den ersten Seiten von Maxie Wanders Buch zeigt sie die Extreme an, von denen ihr Schreiben handelt, von Liebe und Tod, von Sehnsucht bis zur Raserei. Nur dass Maxie Wander daran nichts Ausgedachtes, keinen Roman anschließen wollte, sondern „Protokolle nach Tonband“, wie der Untertitel lautet. Das Inhaltsverzeichnis listet die Namen von 19 Frauen im Alter zwischen 16 und 92 Jahren auf. Ihre Geschichten hörte Maxie Wander an und verschriftlichte sie so, dass der Tonfall, der Sprachduktus, sogar manchmal der Dialekt erhalten blieben.

Pure Geste, stummes Spiel

Die Erzählungen der Frauen sind so atemberaubend unverschlüsselt, dass man oft nicht weiterlesen kann, so schwer ist das beschriebene Leben, so nahe gehen einem manche bewegenden Ereignisse und unvergesslichen Orte: Trennungen, unerfüllte Wünsche, Selbstmorde, Magenbluten, Schichtarbeit, Isolierzellen und ungeheizte Badeöfen, Kinder, aber auch die Suche nach erfüllter Sexualität und innerer Unabhängigkeit. Zu tun, was bis dahin nur Männer tun durften, reicht den Frauen Mitte der Siebzigerjahre in der DDR einfach nicht mehr, schreibt Christa Wolf im Vorwort, die Frauen fragen sich, ob sie überhaupt ein Verhalten und Tun wünschen können, das doch Männer so beschädigt habe über die Jahrhunderte.

 Katja ErfurthVerwandlungskünstlerin: Katja ErfurthVolker Metzler

Es ist noch heute unfassbar, welche weiblichen Erlebniswelten auf diesen nicht ganz dreihundert Seiten durchschritten werden, welche generationenübergreifenden Narrative die Frauen entwerfen. Manches ist aus dem Stoff der Sagas, der Mythologien gemacht. Maxie Wander anonymisiert ihre Beichtfrauen, sie nennt Vornamen, Alter, Beschäftigung, Familienstand und fasst die Geschichten unter Phantastisches andeutenden Überschriften zusammen – „Brot und Kaviar“, „Kernkraftwerk und Delphine“ oder „Marx und Scheherazade“. Das alles ist auch fünf Jahrzehnte später und mehr als dreißig Jahre nach der Wende unglaublich interessant zu lesen.

Wie viele das noch tun, ist schwer zu bestimmen. Das Buch wurde bis in die späten Achtzigerjahre im Osten wie im Westen begeistert aufgenommen und war in aller Munde. Und jetzt? Ist es jetzt der Rest, der DDR-Geschichte aus Frauensicht ist?

„Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung“

Oder ist Maxie Wanders Buch ein unvergessener Klassiker? Wenn Klassiker auch daran zu erkennen sind, dass spätere Generationen auf sie zugreifen, von ihnen dazu bewegt werden, Neues aus ihnen zu machen, dann hat gerade erst wieder eine in der DDR aufgewachsene und ausgebildete Künstlerin eine Arbeit vorgelegt, die Maxie Wanders Buch der Ruhe entreißt. Dass es eine Tänzerin und Choreographin ist, die sich des Buches annimmt, und wie sie es geschafft hat, das ist überraschend.

Katja Erfurths Tanztheatersolo mit dem schönen, rebellischen Titel „Aber ich höre nicht auf, solange ich kriechen kann“ ist pure körperliche Geste, stummes Spiel, obwohl sie manchmal Schmerzens- und andere Laute von sich gibt. Kostüme, Frisuren und Requisiten wechselt sie, um sich von einer ihrer sieben porträtierten Frauen in die nächste zu verwandeln. Jede weiß sie eingängig und konzentriert zu verkörpern. Manchmal ist es fast unheimlich, wie sich Erfurth mit einigen bewusst schlicht gesetzten Schritten körperlich verwandelt, in wenigen Minuten ein Psychogramm entwirft. Verspielt ist sie als sechzehnjährige Schülerin Elke und sehr jung. Aber dann kann sie einen müden Körper zeigen oder einen, der von physisch harter Arbeit Kraft bekommen hat, einen, der uns in der Alterseinsamkeit empfängt, einen, der eine geradezu erotische Energie in das Reiben, Salzen, Kneten von rohem Kohl steckt.

Händeflattern kann ganz verschiedene seelische Vorgänge bedeuten. Die Übergänge sind ein Rausgehen, ein Umziehen und Zurückkommen, ein Abspielen vom Handy: Name, Alter, Beschäftigung, Familienstand. Helmut Oehrings elektronische Komposition „Zerbrechlich I–VII“ passt mit ihren abwechslungsreichen Zartheiten wie gemacht dazu, eine neoromantische Unterstützung, eine Untermalung, dann wieder ein Kontrast, das Auffangen einer szenischen Pause. Erfurth nimmt sie als Theatermusik und tanzt zu ihr, und die Musik klingt, als hätte sie sich das gewünscht.

Wie sehr wir uns in unserem Gegenüber erkennen wollen

Erfurth verweist als ihre eigene Autorin auf einen anderen Satz von Christa Wolf als Ausgangspunkt ihres Theaters: „Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung.“ Sie übernimmt keine der von Wander benannten Frauen, sondern hat sich neue, andere Namen, Tätigkeiten, Rollen und Lebensalter ausgedacht, sie hat eine Fortsetzung von Wanders Arbeit mit anderen Mitteln geschaffen.

Wenn man mit der Tänzerin und Choreographin über ihren eigenen Lebenslauf und künstlerischen Weg spricht, wird klar, woher ihre Ausdruckskraft und Eigenständigkeit kommen, wovon ihr Denken im Tanz beeinflusst ist. Nach der Ausbildung von 1981 bis 1990 an der Palucca-Schule war sie sieben Jahre im Ballettensemble der Semperoper Dresden engagiert. Seit 1997 arbeitet sie durchgehend freiberuflich, mit dem Komponisten Helmut Oehring seit 2019 immer wieder. Sie nimmt sich gewichtige Themen vor, tanzt eine Kassandra und vergewissert sich und uns des Erbes der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer.

Immer auch sind ihre Mittel und ist das Theater als Ort der Verwandlung ihr Thema. Ihre inhaltliche Ebene, ihre musikalische Kongenialität werden verbunden mit dem Zeigen dessen, was Theater sein kann: die ganze Gegenwart in einem zusammenfassend empfundenen Moment, die stärkste, schönste Anwesenheit des Fremden, von Fremden, Klang, Geste, Entführung in eine Welt in der Welt, in der wir erfahren, wie sehr wir uns in unserem Gegenüber erkennen wollen. In ihrem Kinderstück „Wandeln“ mit dem Musiker Florian Mayer zeigte sie das Bauen, Beleuchten, das Umkreisen, das Kneten der Wirklichkeit im Theater derart klug und einladend, dass allen Generationen der Mund offen stand: Ja, Dreijährige mögen es, wenn die Solovioline Bach spielt.

Erfurth engagiert sich in der Villa Wigman, für den Tanz in Dresden und Sachsen, sie lehrt, sie lebt ihre vielen Talente. „So wie jetzt möchte ich weiterleben“, sagt in Wanders Buch Gabi, 16 Jahre, Schülerin der zehnten Klasse. Wenn Katja Erfurth tanzt, denkt man an diesen Satz.

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