„Guck mal, Luhmann!“ Ein Student hält seiner Begleiterin die „Systemtheoretischen Vorlesungen 1966–1970“ hin. Sie winkt ab: „Das ist mir zu speziell. Aber da hinten stehen noch die ,Grenzen der Verwaltung‘.“ Ein älterer Herr mit Barett erkundigt sich derweil bei einem Mitarbeiter, ob das Buch über Gregor von Rimini noch rechtzeitig geliefert worden sei. Über wen? „Gregor von Rimini, den ich doch selbst ediert habe!“ Eine Frau balanciert einen Bücherstapel zur Kasse: „Sehr schade, dass Sie schließen. Aber das hören Sie vermutlich öfter.“
Es sind die letzten Stunden der Buchhandlung von Hans-Peter Willi. Seit Tagen gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema in der Tübinger Gelehrtenrepublik. Denn H.P.Willi war eine ihrer zentralen Institutionen. Zentral nicht nur im räumlichen Sinne, gelegen auf halber Strecke zwischen Altstadt und Universität. Zentral auch, weil das, was diese Gelehrtenrepublik seit Jahrhunderten ausmacht, hier auf neunzig Quadratmetern Ausdruck und Heimat fand: ein umfassendes, ernsthaftes, fast schon ehrfürchtiges Interesse an allen Manifestationen des Geistes.
Von 1999 bis 2025 in der Tübinger Wilhelmstraße: H. P .WilliAndreas Licht1999 zog Willi mit seinem Antiquariat in die Wilhelmstraße ein und erweiterte es aus diesem Anlass zu einer vollwertigen Buchhandlung. Zum Emblem wählte er das Titelblatt des „Augenspiegels“, einer 1511 in Tübingen gedruckten Streitschrift des Humanisten Johannes Reuchlin – das gab dem Geschäft von Anbeginn einen etwas unzeitgemäßen Anstrich und zeigte, in welch große Lokaltradition es sich stellte. Anfangs auf Theologie, Philosophie und Literatur spezialisiert, versuchte Willi bald, die gesamten Geisteswissenschaften abzudecken.
Die noch voll bestückte BuchhandlungAndreas LichtVon der Tür aus rechts ging es zur Theorie: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Philosophie, Soziologie. Weiter hinten geschichtliche und philologische Bücher; Klassiker häufig im Regal, Neuerscheinungen eher in zufälliger Ordnung auf einem der Auslagetische oder in hohen Stapeln auf dem Boden: So fand man, was man finden wollte – und noch vieles darüber hinaus. Auf der linken Seite, neben der Kasse, Theologie und die bei Studenten besonders beliebte gelbe Wand der Reclam-Hefte.
Schöngeistige Naturen zog es in einen leicht abgetrennten Rückraum, in dem anspruchsvolle Belletristik ihren Platz hatte. Gemäß einer persönlichen Vorliebe des Inhabers war Ernst Jünger dort immer ein ganzes Regal reserviert – zum Missfallen von Walter Jens, dem großen Tübinger Intellektuellen, der ansonsten gerne in den Laden kam.
Der belletristische RückraumAndreas LichtIn diesem selbst bei Publikumsverkehr andächtig-stillen Refugium konnte man die Geister der Gegenwart wie der Vergangenheit ungestört auf sich wirken lassen. Hierhin brachte man die vielleicht bald Geliebte, um bei einem ersten Stelldichein gemeinsame Interessen abzuklopfen. Hier sah man verkrachte Gelehrtenexistenzen, die ungefragt Vorträge von Karteikarten ablasen. Willi, Doktor der evangelischen Theologie, beobachtete dies alles mit vornehmer Zurückhaltung, immer zu einer Auskunft bereit, wenn man ihn danach fragte.
Jeder vierte Buchladen musste schließen
Nun ist er 65 und möchte sich zur Ruhe setzen. Gerne hätte er das Geschäft einem Nachfolger übergeben. Doch auch nach dreijähriger Suche hat er niemanden gefunden. Stets war es eine Mischung aus persönlichen Gründen und der Scheu vor dem unternehmerischen Risiko, die Interessenten letztlich vor der Aufgabe zurückschrecken ließ, zuletzt auch seinen Sohn David.
Ein Buchladen ist heute schließlich alles andere als ein Selbstläufer. Zwar vermeldet der Handel Jahr für Jahr Umsatzzuwächse, doch werden diese vor allem von Ketten wie Thalia erzielt, gehen auf steigende Buchpreise oder Segmente wie New Adult zurück. Die Kosten bei Personal, Energie und Miete erhöhen sich hingegen für alle. Im Falle universitätsnaher Buchhandlungen wie H.P.Willi kommen die veränderten Lesegewohnheiten der Studenten hinzu, die immer seltener die bücherreichen Geisteswissenschaften wählen und sich immer häufiger mit digitalen Ausgaben begnügen.
Die Heimstatt einer höheren, geistigen Welt
So ist die Zahl der Buchläden in Deutschland zwischen 2018 und 2023 um 12 Prozent, diejenige der Unternehmen im Bucheinzelhandel sogar um 24 Prozent gesunken (die Differenz machen Läden aus, die von Ketten gekauft wurden). Wenn in den kommenden Jahren die Inhaber aus der Baby-Boomer-Generation in den Ruhestand gehen, dürfte sich diese Tendenz noch verstärken.
Eine Kundin verabschiedet sich von WilliJannis KoltermannWas dabei verloren geht, kann man an diesem Dienstag in Tübingen beobachten. Schon 2022 hatte die Stadt den Verlust der anderen, noch älteren Traditionsbuchhandlung Gastl beklagt. Nun ist alles, was Rang, Namen oder nur ein wenig geistiges Interesse hat, gekommen, um sich vom letzten Buchladen mit geisteswissenschaftlichem Schwerpunkt zu verabschieden. Während Schnäppchenjäger von den günstigen Räumungskäufen profitieren, empfängt Willi von Stammkunden Geschenke: Blumen, Wein und viele, viele Karten.
Immer wieder Händeschütteln, Abschiedsworte, Erinnerungen. Ein Doktorand bedankt sich, dass Willi ihm einst von der Voß-Übersetzung der „Ilias“ ab- und zu Schadewaldt geraten habe. Der Schriftsteller Henning Ziebritzki schwärmt, er habe hier immer genau jene Bücher gefunden, die ihn interessierten, „ohne Ablenkung durch Reiseführer, Kochbücher und Yogamatten“. Ein anderer überreicht Willi eine mehrseitige Reflexion zur Frage, warum ihn diese Ladenschließung so bedrücke wie wenig anderes in letzter Zeit. Bei allen schwingt die Ahnung mit, dass hier nicht nur ein Buchladen geht, sondern auch die Heimstatt einer höheren, geistigen Welt.
Szenen wie diese spielen sich derzeit im ganzen Land ab. Zwar ist nicht jede Stadt so gelehrt wie Tübingen und hat einen so gelehrten Laden wie H.P.Willi. Doch ob in Dornstetten, Emmerich oder Berlin, fast wöchentlich berichten Lokalzeitungen über das Ende von Buchhandlungen und das Leid der Stammkunden.
Was wird die deutsche Geistesrepublik ohne diese Herbergen des Geistes sein? Die Menschen, die sich noch für Bücher interessieren, werden enger zusammenrücken und sich neue Orte der Einkehr suchen müssen. Dass sich stets so viele versammeln, um von den alten Orten Abschied zu nehmen, macht jedenfalls Hoffnung.

vor 19 Stunden
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