Eben noch hat sich Norbert Lammert als „Sympathisant“ von Cem Özdemir bekannt. Ein „aufgeschlossener Konservativer“ sei der Grünen-Politiker, sagt der frühere Bundestagspräsident von der CDU. Doch dann fügt Lammert süffisant an, er wünsche ihm eine erfolgreiche Kandidatur für den baden-württembergischen Landtag. Dort habe er „die grandiose Aussicht, das wichtigste Amt zu besetzen, das eine vitale Demokratie von einem autoritären Regime unterscheidet:. Oppositionsführer.“
Für die Schlusspointe seiner Laudatio erntet Lammert am Mittwochabend beim offiziellen Abschied von Özdemir aus der Grünen-Fraktion viele Lacher. Dabei hat der 76-jährige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung womöglich den realistischsten Blick auf die Lage von Özdemir.
An diesem Samstag wird Özdemir in Heidenheim einen Titel erhalten, den ihm seiner langen politischen Laufbahn noch fehlt. Erster türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter war er, Europapolitiker, Grünen-Chef, am Ende der Ampel Doppelminister. Nun aber zieht es den 59-Jährigen in seine schwäbische Heimat. Auf dem Landesparteitag der Grünen soll er als Spitzenkandidat für die Landtagswahl im März 2026 aufgestellt werden. 15 Jahre nach dem historischen Triumph von Winfried Kretschmann soll Özdemir die einzige grüne Staatskanzlei verteidigen.
20
Prozent bekommen die Grünen in Baden-Württemberg in Umfragen gerade noch.
Doch seine Mission ist denkbar schwer. In der jüngsten Umfrage von SWR und „Stuttgarter Zeitung“ liegen die Grünen bei 20 Prozent, elf Prozentpunkte hinter der CDU um deren jungen Fraktionschef Manuel Hagel. Rechnerisch scheint in Baden-Württemberg eine Deutschland-Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen möglich. Für Özdemir bliebe nur die Rolle des Oppositionsführers.
Doch für die Grünen geht es um deutlich mehr als die Vollendung der politischen Karriere Özdemirs. „Das Ergebnis der Landtagswahl in Baden-Württemberg wird für die Grünen den Sound der kommenden Jahre vorgeben“, sagt ein Parteivertreter aus dem Südwesten zur Bedeutung der Wahl. Verlieren die Grünen die Stuttgarter Staatskanzlei, würde die Erzählung einer neuen Volkspartei endgültig enttarnt werden. „Das verstehen hoffentlich auch alle in Berlin.“
In Berlin wollen nicht alle den Kurs aus Stuttgart mittragen
Tatsächlich laufen die Vorbereitungen für die Landtagswahl im Ländle bereits auf Hochtouren. In Stuttgart bereitet ein mehrköpfiges Team den langen Wahlkampf von Özdemir vor Ort vor. Der Kandidat, der nun keinen Posten mehr hat, soll durchs Land touren, um dort die Stimmung aufzunehmen und sich vom Ampel-Image zu befreien. Und auch in Berlin werben die Südwest-Grünen für ihren traditionell pragmatischen Kurs.
Doch dabei stoßen die Wahlkämpfer auf Widerstände. In der Bundestagsfraktion, die mehrheitlich mit Parteilinken besetzt ist, will man sich nicht das Programm aus Stuttgart diktieren lassen. Besonders bei den Themen Migration und in der Steuerpolitik sind Streitereien programmiert.
„Wer für Positionierungen, die auf einem grünen Parteitag nie mehrheitsfähig wären, Beinfreiheit einfordert, sollte sich im Klaren darüber sein, dass der Rest der Partei sich auch die Beinfreiheit herausnimmt, der eigenen politischen Haltung treu zu bleiben“, sagt eine Bundestagsabgeordnete.
Immerhin in Stuttgart sind die Reihen der Grünen geschlossen. „Cem ist ein Landeskind und weiß, wie die Menschen hier ticken“, lobt etwa Fraktionschef Andreas Schwarz, dem in der Vergangenheit selbst Ambitionen auf den Ministerpräsidenten-Job nachgesagt wurden, den designierten Spitzenkandidaten.
Schwarz will sich zehn Monate vor der Wahl nicht aus der Ruhe bringen lassen: „Umfragen sind immer Momentaufnahmen“, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Unsere Aufgabe ist es jetzt, dass sich die hohen Zufriedenheitswerte für die Regierung Kretschmann und die hohe Beliebtheit von Özdemir im März 2026 in Stimmen für die Grünen widerspiegeln.“ Inhaltlich sieht er seine Partei auf der Höhe: „Die Zukunftsthemen – Wirtschaft, Klimaschutz und Bildung – liegen bei uns Grünen.“
Es geht um Wirtschaft, Wirtschaft und nochmal Wirtschaft.
Grünen-Politiker Cem Özdemir hat klare politische Prioritäten.
Es sind Themen, die Özdemir auch bei seiner Abschiedsrede am Mittwochabend vor geladenen Gästen in einem Saal neben der Spree im Bundestag anspricht. „Es geht um Wirtschaft, Wirtschaft und nochmal Wirtschaft“, sagt Özdemir dort und erklärt, er wolle das Aufstiegsversprechen im Ländle erneuern.
Und auch bei dem kleinen Festakt spart Özdemir mal wieder nicht mit Kritik an seiner eigenen Partei. Dass die Opposition die neue Regierung schon vor dem Amtsantritt schlecht geredet habe, sei schlechter Stil. „Wir sollten nicht mitmachen beim Wettlauf der schlechten Laune.“
Nicht wie ein Oppositionsführer spricht Özdemir, sondern schon ein bisschen wie ein stolzer Landesvater. Leidenschaftlich schwärmt er von der Vielfalt des Landlebens, zitiert den schwäbischen Dichter Friedrich Hölderlin und lobt die gesellschaftliche Offenheit, die seiner Familie ein neues zu Hause ermöglicht habe. „Heimat ist vor allem eine große Hoffnung“, sagt Özdemir. Für ihn dürfte der Satz im Besonderen gelten.