Geschichte des Ukrainekriegs: Erzählungen einer Bombennacht

vor 23 Stunden 2

Es ist Weihnachtszeit, und es ist Krieg. Im vierten Jahr in der Ukraine, und ungeachtet aller präsidialen Protzereien, hat Donald Trump ihn nicht in kurzer Zeit beendet. Den Ukrainern drohen bedrückende Festtage, die russischen Angriffe werden immer mehr, und die in Moskau propagierte Zermürbungstaktik setzt längst mehr auf die Winterkälte als auf die eigenen Soldaten, die sich als wenig kampfkräftig erwiesen haben. Drohnen und Raketen aber haben Putins Schergen im Überfluss. Sie zwingen die Menschen in der Ukraine immer wieder in die Keller, aber noch nicht in die Knie.

Es ist Krieg, und Krieg bedeutet Propaganda, einseitige Berichterstattung, und zwar auf beiden Seiten. Deshalb ist auch der jetzt ins Deutsche übersetzte Comic „Eine kurze Geschichte eines langen Krieges“ von der ukrainischen Kulturwissenschaftlerin und Aktivistin Mariam Naiem, den ihre Landsleute Yulia Vus und Ivan Kypibida in Bilder gesetzt haben, keine historische Erzählung mit Objektivitätsgarantie, sondern eine Betroffenheitsschilderung. Das sieht man schon am Rahmen des Comicgeschehens: Die Chronik des Konflikts zwischen Ukrainern und Russen wird für eine junge Frau erstellt, die in einer Raketen- und Drohnennacht in Kiew Zuflucht in einem Luftschutzraum findet.

Von Alarmsirene bis Entwarnung

Es handelt sich um Vika, eine offenbar halb fiktive Figur, die im Comic mit der realen Erzählerin Mariam Naiem zusammenwohnt. Während Naiems Abwesenheit ereignet sich wieder ein russischer Großangriff, und die aus dem eigenen Schlafzimmer in den Untergrund vertriebene Vika liest zur Ablenkung die Posts ihrer Mitbewohnerin, in denen diese die Hintergründe des Kriegs für ein englischsprachiges Publikum darstellt – ganz wie es die tatsächliche Mariam Naiem auch tut.

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausDie Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Die Handlung der knapp hundert Seiten geht von der Alarmsirene bis zum Entwarnungssignal, und am Ende geht die Sonne über Kiew auf. Es ist ein Dokumentations- und Durchhaltecomic, und so wechseln sachliche Passagen mit pathetischen ab. Die Begeisterung für die ukrainischen Streitkräfte etwa hält nach allen ansonsten bekannten Informationen dem Bild der wirklichen Zustände dort nicht stand, aber selbstverständlich wird in einer Situation wie der in der Ukraine keine Kritik an denjenigen laut, die überhaupt erst das Überleben des Staates sichern.

Ein Krieg, dessen Vorgeschichte drei Jahrhunderte zurückreicht

„Russland gegen die Ukraine“, steht im Untertitel des Comics, und das Russland, das Naiem vorführt, ist ein Reich des Bösen, seit die Romanow-Zaren und -Zarinnen im achtzehnten Jahrhundert die ukrainische Selbständigkeit beendeten. Der Comic greift aber noch viel weiter zurück: bis zur ukrainischen Staatsbildung als Kiewer Rus und deren Christianisierung kurz vor der Jahrtausendwende. Dadurch wird die kulturelle Eigenständigkeit betont, die die russische Propaganda den Ukrainern nicht erst seit dem gegenwärtigen Krieg abspricht. Geschichte, Sprache, Kultur – Naiem zeigt eine ereignisreiche Historie ihres Landes, die weiter zurückreicht als das, was man russische Geschichte nennen kann. Und damit hat sie ja auch recht.

Das Jahr 2014 bezeichnet den Beginn des Kriegs in der Ostukraine.Das Jahr 2014 bezeichnet den Beginn des Kriegs in der Ostukraine.Avant Verlag

Der „lange Krieg“ des Haupttitels ist also einer, der bereits seit drei Jahrhunderten existiert und einseitig von russischer Seite geführt wird. „Wir sind nicht die erste Generation, die an Ungerechtigkeit stirbt“, heißt es gegen Ende des Comics in einem Schutzraumgespräch. Daran muss man nicht herumdeuteln: Die Ukraine ist rücksichtslos kolonialisiert worden. Und so dämonisch, wie Vus und Kypibida die russischen Herrscher zeichnen (vor allem die bolschewistischen des zwanzigsten Jahrhunderts), haben sie ja auch agiert. Mit dem Höhepunkt des Holodomor, der von Stalin strategisch befohlenen Ausplünderung der ukrainischen Landwirtschaft in den Jahren 1932/33, mit der die als „Kulaken“ geschmähten Bauern in der Ukraine zu kollektivierten Betrieben gezwungen werden sollten und das Land systematisch ausgehungert wurde. Das Resultat: geschätzt fast vier Millionen Tote. Ein Massaker ohne Waffeneinsatz.

Antidot zu dem, was viele in Deutschland glauben

Und die Vorgeschichte des heutigen Kriegs, denn dieser Massenmord wurde den Russen in der Ukraine nicht einmal nach dem mörderischen Einfall der Deutschen 1941 und der folgenden Besatzungszeit vergessen. Beim Zerfall der Sowjetunion war deshalb die Freude über die Lösung von Moskau groß – aber groß war auch der Trennungsschmerz in Moskau, denn dort sah man das unterjochte Land als naturgegebenen Besitz an. Man kennt das aus allen Kolonialgeschichten. Genau darum müssen sie immer wieder erzählt werden. Denn manche glauben selbst außerhalb Russlands daran. Viel zu viele, gerade bei uns in Deutschland.

Das Cover zum ComicDas Cover zum ComicAvant Verlag

Dass der Avant-Verlag den im ukrainischen Original vor einem Jahr erschienenen Band hat übersetzen lassen, ist also sehr zu begrüßen. Wobei man sich fragt, wie bisweilen stehen gebliebene englische Begriffe in einen Band kommen, der aus dem Ukrainischen übersetzt worden sein soll (von Daria Velychko). Und auch über Seitenzahlen hätte man sich als Leser gefreut, denn es gibt einen Anmerkungsteil am Ende des Comics, in dem die Quellen der historischen Darstellungen genannt werden – mit Bezug auf konkrete Seiten, die man aber, sofern man sie überprüfen will, erst selbst auszählen muss, um herauszubekommen, auf was sich die hinten genannten Seitenzahlen beziehen. Man begreift es nicht, wie eine solche Schnapsidee entstehen kann.

Als Putin seine Felle davonschwimmen sah

Ansonsten ist der Band in einer Optik gehalten, die mit ihrem realistischen Figurenstil und den schematisch-metaphorischen Schaubildern die Erwartungen an einen Sachcomic einlöst, allerdings keine Überraschungen liefert. Als einzige Zusatzfarbe wird ein gelbliches Orange verwendet, das natürlich an die Orange Revolution von 2004 erinnern soll, als die europanahen Teile der ukrainischen Bevölkerung eine Demokratisierung des Landes einforderten und auch durchsetzen konnten. Mit dem Euromaidan des Jahres 2013 wiederholte sich dieser Protest, als die Errungenschaften der vorherigen Jahre verloren zu gehen drohten.

Das war der Zeitpunkt, als Russlands Präsident Putin seine Felle davonschwimmen sah und deshalb zunächst die Krim annektierte (gleichzeitig zum Höhepunkt der Auseinandersetzungen auf den Straßen von Kiew) und dann die separatistischen Kräfte in der Ostukraine zum offenen Bürgerkrieg ermunterte – der aber durch die russische Hilfe schon der Beginn des heutigen Krieges war.

Mariam Naiem stammt aus einer afghanischen Einwandererfamilie in der Ukraine, und daher weiß sie genau, was russische Besatzungsherrschaft bedeutet – genauer als die meisten ihrer Landsleute in der Ukraine, denn die Generation, die den Holodomor erlebt hat, ist mittlerweile mit wenigen Ausnahmen tot. Naiems publizistischer Einsatz für ihre ukrainische Heimat ist dementsprechend vehement, und bisweilen kann man dem orange eingefärbten Comic seine Schwarz-Weiß-Malerei vorwerfen. Aber er ist auch bewegend, weil aus der Erzählhaltung der ukrainische Wille zum Überleben deutlich wird, dem das Land seine zuvor nie für möglich gehaltene Widerstandskraft verdankt. Es ist eben auch nicht die erste ukrainische Generation, die sich nicht unterkriegen lässt.

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