England vs. Schweden bei Fußball-EM: Das schlechteste, bitterste und beste Elfmeterschießen

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 Heldin und auch keine Heldin

Schwedens Torhüterin Jennifer Falk: Heldin und auch keine Heldin

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Matthew Childs / REUTERS

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Als um 23.49 Uhr alles vorbei war, wusste man gar nicht, wohin man zuerst schauen sollte: zu welchem Unfall, zu welchem Drama, zu welcher Wendung – oder wie man das alles sonst nennen wollte.

Zu Smilla Holmberg vielleicht, der gerade einmal 18-Jährigen, die als siebte schwedische Schützin angetreten war und letztlich den Fehlschuss abgab, der das Aus im EM-Viertelfinale bedeutete? Die mutig war und nicht belohnt wurde?

Oder zur schwedischen Torhüterin Jennifer Falk, die vier Elfmeter gegen England gehalten hatte und damit eigentlich die Heldin des Abends hätte sein müssen, es aber doch nicht war? Als fünfte Schützin war sie angetreten und hätte den Einzug ins Halbfinale perfekt machen können. Ihr Schuss flog weit über das Tor.

Musste man zu den Engländerinnen blicken, die in der 78. Minute noch mit 0:2 zurückgelegen hatten, sich zurückkämpften, im Elfmeterschießen nur drei von sieben Versuchen verwandeln konnten, trotzdem gewannen und nun auf Italien treffen?

Oder zu Schwedens Trainer Peter Gerhardsson, der kurz vor dem englischen Doppelschlag zum 1:2 und 2:2 seine Staroffensivspielerinnen Kosovare Asllani und Fridolina Rolfö ausgewechselt hatte? Der in der 118. Minute und kurz vor dem Elfmeterschießen auch noch Stina Blackstenius vom Feld nahm? Er hatte so viele treffsichere Spielerinnen ausgewechselt, dass am Ende nur noch eine Handvoll übrig blieb, die im Elfmeterschießen antreten wollten.

 Das Zentrum der Leere

Spieler Holmberg (r.) nach ihrem Fehlschuss: Das Zentrum der Leere

Foto: Michael Buholzer / EPA

Musste man zu den Agenturjournalisten auf der Pressetribüne blicken, die ihre Nachrichten ständig umschreiben mussten?

Oder zu Sarina Wiegman, der englischen Erfolgstrainerin, die mit einem Dreifachwechsel in der regulären Spielzeit die Wende eingeleitet hatte und jetzt vor Freude den Platz stürmte?

Ein Abend der tausend Geschichten

»Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich sagen soll«, sagte Schwedens Torhüterin Falk später über den Abend der tausend Geschichten.

Es war ein Drama ohne erkennbare Logik, bei dem immer neue Heldinnen auftauchten – und ebenso schnell verschwanden. Die rund 22.000 Fans im Zürcher Letzigrund reagierten entsprechend: verstört, fassungslos, mancherorts auch mit Gelächter. Wobei es eher das Lachen war, das entstehen kann, wenn ein Sportereignis gleichzeitig zu grotesk und zu tragisch ist, um es vollständig zu begreifen.

Dieses Elfmeterschießen mit neun Fehlversuchen bei 14 Schüssen war wahrscheinlich eines der schlechtesten, bittersten und gleichzeitig besten (weil dramatisch), das der Fußball der Frauen bisher erlebt hat.

Englands Spielerinnen feiern, Schweden Hollberg steht noch mittendrin

Englands Spielerinnen feiern, Schweden Hollberg steht noch mittendrin

Foto: Alexander Hassenstein / Getty Images

»Es ist eine harte Niederlage«, sagte Schwedens Trainer Gerhardsson hinterher. Und niemand, der dieses Spiel gesehen hatte, konnte diese Einschätzung in Zweifel ziehen.

Seine Mannschaft hatte in der ersten Hälfte noch wie ein Titelanwärter aufgespielt, führte nach überlegenem Auftritt früh 2:0. Im Stadion machte der eine oder andere sogar Witze darüber, dass das deutsche 1:4 gegen diese Schwedinnen im Nachhinein fast wie ein Achtungserfolg wirkte.

Schweden spielte mutig, als würde man an diesem Abend erklären wollen, dass der EM-Titel bisher nicht an das hoch eingeschätzte Spanien vergeben ist.

Doch der Fall kam noch am selben Abend – und er war tief.

»Es wird schwer, über diesen Abend hinwegzukommen«, sagte Magdalena Eriksson später im schwedischen Fernsehen. 123 Länderspiele hat sie bereits absolviert. Genug, um zu wissen, wie sich Niederlagen anfühlen. Doch diese war anders.

Vor allem für Smilla Holmberg. Sie hatte erst vor wenigen Wochen ihr erstes Länderspieldebüt gefeiert, erzielte ihr erstes Tor im Nationaldress gegen Deutschland und reifte zu einer der Überraschungen des Turniers. Mit 18 Jahren stand sie nun als siebte schwedische Schützin am Punkt. Und verschoss.

Die Engländerinnen jubelten, der gesamte Trainerstab rannte zur Torhüterin Hannah Hampton. Holmberg blieb stehen. Die Hände vor dem Gesicht, reglos. Für einen Moment war sie das Zentrum der Leere. Die Siegerinnen mussten aufpassen, sie nicht umzurennen.

Diese Bilder gehören jetzt zu ihrer Karriere.

 »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich sagen soll«

Torhüterin Falk: »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich sagen soll«

Foto: Sebastien Bozon / AFP

Im schwedischen Fernsehen wurde Peter Gerhardsson später dafür kritisiert, einer 18-Jährigen die Verantwortung für einen solchen Elfmeter übertragen zu haben. Aber viel war ihm nicht übrig geblieben. Zu viele erfahrenere Spielerinnen waren ausgewechselt worden, zu viele hatten zuvor verschossen, irgendwann musste Smilla Holmberg an die Reihe kommen. In diesem Elfmeterschießen war niemand mehr wirklich freiwillig dran.

Gerhardsson selbst sagte: »Alle werden sie unterstützen – und nicht nur sie. Man ist nicht traurig, weil man 18 ist. Andere sind mit 27 oder 30 genauso traurig.«

Wohl auch eine Anspielung auf Jennifer Falk, seine 32 Jahre alte Torhüterin. Drei Elfmeter hatte sie in Serie pariert, wuchs mit jeder Parade – bis sie selbst schießen wollte, wie sie später selbst sagte.

»Leere, tausend Gefühle gleichzeitig«

Als fünfte Schwedin trat sie an, mit Selbstvertrauen und, wie es schien, zu viel Kraft. Der Ball flog weit über das Tor.

Doch Falk war noch nicht fertig. Nur Sekunden nach ihrem Fehlschuss hielt sie erneut. Ihr vierter abgewehrter Elfmeter an diesem Abend. Nur nützte er kurz darauf mit Holmbergs Fehlschuss nichts mehr.

»Leere, tausend Gefühle gleichzeitig«, habe sie, sagte Falk: »Das ist kaum zu beschreiben.«

Nach diesem grotesken Elfmeterschießen konnte nicht einmal eine vermeintliche Gewissheit bestätigt oder widerlegt werden: Dass der englische Fußball ein grundsätzliches Problem mit Elfmeterschießen hat – das stimmt auch nach diesem Abend mit vier englischen Fehlschüssen noch. Und gleichzeitig stimmt es eben auch nicht mehr.

Englands Trainerin Wiegman sagte: »Im Elfmeterschießen haben wir viel verfehlt, aber die Schwedinnen haben noch mehr verfehlt.« Fußball ist eben doch ein einfaches Spiel. Selbst an einem komplizierten Abend.

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