Union und SPD streiten nur wenige Tage nach Vorstellung des Koalitionsvertrages um die Auslegung der in Aussicht gestellten Erhöhung des Mindestlohns. Der CDU-Vorsitzende und mögliche Bundeskanzler Friedrich Merz will die Mindestlohnkommission ihre Arbeit machen lassen und eine Erhöhung auf 15 Euro im Jahr 2026 nicht vorwegnehmen. Die Sozialdemokraten widersprechen und erklären diesen Schritt öffentlich für beschlossen.
Nun mischen sich auch die Grünen eine und gehen vor allem die SPD scharf an. „Die Union hat sich beim Thema Mindestlohn in den Verhandlungen komplett durchgesetzt“, sagte der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch am Donnerstag dem „Spiegel“. Der Koalitionsvertrag ist aus seiner Sicht lediglich „Willensbekundung und Prosa für die SPD-Seele“. Er bringe „keinerlei Veränderung der Realität“.
Tatsächlich ist die Formulierung in der am vorletzten Mittwoch in Berlin vorgestellten Vereinbarung recht weich. „An einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission halten wir fest“, heißt es in Zeile 548. Das Gremium werde sich im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an der Marke von 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren.
„Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“. Heißt: Anders als in der jüngeren Vergangenheit soll sich die Politik der Arbeit der Kommission heraushalten.
Das geht dem ehemaligen Wahlkampf-Manager der Grünen nicht weit genug. Stattdessen hätten die Sozialdemokraten auf eine Änderung des Mindestlohngesetzes pochen müssen, sagt Audretsch. Als untere Haltelinie hätte ein gesetzlicher Mindestlohn von 60 Prozent des Bruttomedianlohns eingezogen werden müssen.
Auch an anderen Stellen brauche es beim Thema Mindestlohn grundlegende Überarbeitungen, so Audretsch. Die Mindestlohnkommission müsse künftig schneller auf wirtschaftliche Entwicklungen reagieren können.
Im Juni 2023 hatte das neunköpfige Gremium eine Erhöhung auf 12,41 ab 2024 sowie 12,82 ab 2025 festgelegt. „Dieser Zeitraum ist viel zu lang, insbesondere in Zeiten hoher Unsicherheiten über Preissteigerungsraten und Lohnabschlüsse“, sagte Audretsch.
Nimmt man die 60 Prozent des Medianlohns als Untergrenze, müsste der Mindestlohn 2026 auf 14,88 bis 15,02 Euro und 2027 auf 15,31 bis 15,48 Euro steigen, hat das gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnet. Auch einer Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie entsprächen 15 Euro.
Die Arbeitgeber warnen dagegen vor weiteren politische Eingriffen in die unabhängige Entscheidungsfindung der Mindestlohnkommission und vor Folgen für ihre Wettbewerbsfähigkeit.