Belgien: „Wir fahren Brüssel gegen die Wand“

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Auf den Stufen vor der prächtig renovierten Brüsseler Börse fanden sich Mitte März mehrere Hundert Bürgerinnen und Bürger zu einer denkwürdigen Protestkundgebung zusammen. 89 Minuten lang verharrten sie in absolutem Schweigen. Jeweils eine Minute Sprachlosigkeit widmeten sie damit den 89 Abgeordneten ihres Parlaments, die es seit den Wahlen im Juni 2024 nicht geschafft haben, eine Regierung zu bilden – obwohl ihre Stadt täglich tiefer im Sumpf der Schulden versinkt. Das ist mehr als nur eine Blamage für die Heimatstadt der EU.

Die Region „Brüssel-Hauptstadt“ mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern ist neben Flandern und Wallonien die dritte Region Belgiens. Sie ist gemeint, wenn in Belgien von „Brüssel“ die Rede ist. Die Stadt Brüssel im engeren Sinn, bewohnt von rund 190 000 Menschen, ist nur eine von 19 Gemeinden der Region. Wenn nun eine der drei Säulen des belgischen Föderalismus wackelt, bringt dies das ganze belgische Staatsgebilde ins Wanken.

Der belgische Föderalismus in seiner bestehenden Form steht auf dem Spiel

Die Demo vor der Börse hat nichts bewirkt, ein Ordnungsruf von König Philippe blieb ebenso unerhört wie die Leitartikel in den belgischen Medien, die von Verantwortungslosigkeit sprechen. Auch zehn Monate nach der Wahl streiten die 14 Parteien im Parlament darüber, wer mit wem koalieren soll. Sie haben noch kein einziges Mal darüber verhandelt, wie sich die Probleme der EU-Metropole lösen lassen, die die Bewohner der Stadt Tag für Tag spüren: die Obdachlosigkeit, die Drogenkriminalität, die überlastete U-Bahn. Und auch die Frage, wie die existenzgefährdende Verschuldung in den Griff zu bekommen ist, war noch kein Thema.

Mit dem derzeit gültigen Haushalt nimmt Brüssel jedes Jahr 6,5 Milliarden Euro ein, gibt aber 8,5 Milliarden Euro aus. Der Gesamtschuldenstand liegt bereits bei 14 Milliarden Euro, vor sieben Jahren waren es noch fünf Milliarden. Die Ratingagentur S&P hat die Kreditwürdigkeit von Brüssel bereits herabgestuft. Wenn nicht schleunigst eine neue Regierung den Haushalt korrigiert, könnte Brüssel unter die Zwangsverwaltung der nationalen Regierung fallen. Es wäre das Ende des belgischen Föderalismus in seiner bestehenden Form.

Die Europäische Union könne vom „compromis à la belge“ lernen, von der belgischen Kompromisskultur, heißt es häufig. Die Art und Weise, wie der ewige Konflikt zwischen den Flamen und den Wallonen ausbalanciert wird, sei vorbildlich. Die Brüsseler Krise offenbart nun die zerstörerische Seite des Modells.

Eine der internationalsten Städte der Welt ist durch die belgische Verfassung gespalten

Während in der Region Wallonien Französisch gesprochen wird und in der Region Flandern natürlich Flämisch, ist die Region Brüssel qua Verfassung zweisprachig. Das bedeutet, dass es bei der Wahl zum Regionalparlament zwei Listen gibt: eine mit flämischsprachigen und eine mit französischsprachigen Kandidaten. Wählerinnen und Wähler müssen sich entscheiden, auf welcher Liste sie ihr Kreuz machen. Gemischte Wahllisten gibt es nicht.

Die belgische Parteienlandschaft ist ohnehin weitgehend gespalten: Es gibt flämischsprachige und französischsprachige Sozialisten, Konservative, Liberale mit jeweils eigenem Programm. Aber selbst die Marxisten von der Arbeiterpartei PTB, die eine einheitliche Organisationsstruktur in ganz Belgien haben, müssen sich für die Wahlen in Brüssel aufteilen. Eine absurde Situation: Brüssel, eine der internationalsten Städte der Welt, ist durch die belgische Verfassung gespalten.

Die 89 Abgeordneten, die am 9. Juni 2024 ins Regionalparlament gewählt wurden, verteilen sich auf sechs französischsprachige und acht flämische Parteien. Die Brüsseler Regeln sehen nun vor, dass zunächst die flämisch- und die französischsprachigen Parteien jeweils getrennt und für sich eine eigene Mehrheit bilden. Diese beiden Allianzen müssen dann zueinanderfinden zu einer Regierungskoalition.

Der Traum von Flanderns Unabhängigkeit ist auch bei den Nationalisten kaum mehr als Parteifolklore

Warum seit zehn Monaten nichts vorangeht, lässt sich in Kurzform so zusammenfassen: Die flämischen Grünen sind als große Wahlverlierer beleidigt und nehmen sich eine Auszeit vom Regieren. Deshalb werden für eine flämische Mehrheit die flämischen Nationalisten von der Partei N-VA gebraucht, die mit zwei Abgeordneten vertreten sind. Die französischsprachigen Sozialisten weigern sich aber, mit der N-VA zusammenzuarbeiten. Begründung: Die Flamen wollten den belgischen Staat zerstören und Brüssel als Hauptstadt eines unabhängigen Flanderns an sich reißen – ein verqueres Argument.

Die flämischen Nationalisten stellen auf nationaler Ebene mit Bart De Wever, ehemaliger Bürgermeister von Antwerpen, seit Februar erstmals den Ministerpräsidenten. Der Traum von Flanderns Unabhängigkeit ist kaum mehr als Parteifolklore. Im vorwiegend französischsprachigen, links tickenden, islamisch geprägten Brüssel spielen sie ohnehin kaum eine Rolle. Das könnte sich ändern, sollten die seit Jahren regierenden Sozialisten weiter Chaos stiften.

„Wir fahren Brüssel gegen die Wand“, warnt der Abgeordnete Christophe de Beukelaer von der Mitte-Partei „Les Engagés“, der sich seit Monaten um einen Konsens bemüht. Das Überleben von Brüssel als eigenständiger politischer Einheit stehe auf dem Spiel. Deshalb hat er mit seiner Partei nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Regierungsbildung mit Strafen erzwingen will: Den Abgeordneten soll das Gehalt gekürzt werden – umso mehr, je länger die Verhandlungen dauern. Schwer vorstellbar, dass es dafür eine Mehrheit im Parlament gibt.

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