Müssen Menschen ärztlich „zwangsbehandelt“ werden, ist das bisher nur stationär in einer Klinik möglich. Doch dieser sogenannte Krankenhausvorbehalt ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, haben die Bundesverfassungsrichter jetzt entschieden. Was daraus folgt.
Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen – und all das gegen den Willen der Betroffenen? Unter bestimmten Voraussetzungen ist das als letztes Mittel rechtlich erlaubt. Bisher dürfen diese sogenannten ärztlichen Zwangsmaßnahmen aber nur in Krankenhäusern durchgeführt werden – und nicht etwa in spezialisierten ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld.
Aber das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat nun am Dienstag entschieden, dass rechtlich betreute Menschen nicht in jedem Fall stationär ins Krankenhaus müssen: „Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.“
Die entsprechende gesetzliche Regelung ist demnach mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, Ausnahmen können in bestimmten Fällen gemacht werden.
Zwang als letztes Mittel
Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen eines Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), kann ein Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen, so das Bundesverfassungsgericht. Die Einwilligung, die der Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf, setzt nach der bisherigen Regelung unter anderem die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus voraus.
Grundsätzlich gilt: Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen nur das letzte Mittel sein. Davor gibt es ein mehrstufiges Prüfverfahren. So muss die Maßnahme laut Gesetz etwa notwendig sein, „um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden vom Betreuten abzuwenden“. Zudem muss sie „im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“, erfolgen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2016 schon einmal eine Nachbesserung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen verlangt. Bis dahin war Voraussetzung für solche Maßnahmen unter anderem, dass die Patienten in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht waren.
Hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, durften nach damals geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden. Das verstoße gegen die Schutzpflicht des Staates, entschied der Erste Senat. Der Gesetzgeber musste die Schutzlücke unverzüglich schließen.
Antrag des Betreuers
Im konkreten Fall geht es diesmal um eine psychisch schwer erkrankte Frau aus Nordrhein-Westfalen, laut Bundesgerichtshof (BGH) leidet sie unter anderem an paranoider Schizophrenie. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt. Für sie ist seit dem Jahr 2000 eine Betreuung, unter anderem für die Gesundheitssorge und die Aufenthaltsbestimmung eingerichtet.
Im Jahr 2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung. Die Beschwerde gegen die zurückweisende Entscheidung des Betreuungsgerichts war erfolglos.
Gerichte lehnten den Antrag ab, sodass der Fall schließlich beim BGH landete. Nach dessen Überzeugung ist die Verpflichtung, eine solche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus durchzuführen, mit Artikel 2 des Grundgesetzes unvereinbar. Aus diesem Artikel folge eine Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit.
Der BGH legte den Fall daher dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Im Juli verhandelte der Erste Senat dazu mündlich in Karlsruhe. Der Transport ins Krankenhaus könne für Betroffene eine erhebliche Belastung bedeuten, erklärte etwa Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in der Verhandlung.
Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten, die der Patient in der Regel bewusst mitbekomme. Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Im Einzelfall könnten die Einsätze gravierende körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe jemand beispielsweise in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne dies verstärkt werden.
Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium im Juli in Karlsruhe deutlich. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten diese Maßnahmen nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.
Diese Position unterstützten Fachleute, etwa des Deutschen Richterbunds und der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen.
Nach der aktuellen Entscheidung ins Karlsruhe ist der Gesetzgeber jetzt allerdings zur Neuregelung verpflichtet – spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026. Bis zu einer Neuregelung gilt das bisherige Recht fort.
dpa/AFP/sk