Sein Credo war: „no vibrato“. Sir Roger Norrington war ein fröhlicher und umgänglicher Mensch. Aber bei seiner künstlerischen Aufgabe machte er keinen Kompromiss. Es war das Ziel von Sir Roger Arthur Carver Norrington, der am 16. März 1934 in Oxford geboren wurde, der Musikwelt zu einem neuen Bewusstsein für den Klang zu verhelfen. Über sechzig Jahre lang hatte er als Dirigent gearbeitet. Über vierzig davon widmete er sich seiner Passion, die er zu seiner Mission erklärt hatte: Orchestermusiker und Musikhörer gleichermaßen davon zu überzeugen, dass klassische Musik im Allgemeinen und die romantische im Besonderen ohne Vibrato zu spielen sei.
Aber das war nur die äußere Schicht, mit der Sir Roger an seiner Aufgabe arbeitete. Im Kern der Sache ging es ihm darum, den reichen, schillernden Klang der Musik freizulegen, den er beim Studium der Partituren entdeckte, und ihn möglichst „pur“ und direkt zum Ohr der Zuhörerschaft zu transportieren. Es war die nicht zum geringen Teil britische Entdeckung der „historischen Aufführungspraxis“, die ihn, den Briten, auf diesen Weg geführt hatte. Und im Gegenzug war er es, der den Protagonisten der Aufführungspraxis zeigte, dass die Methode auch Gewinn für Musikstücke brachte, die deutlich später als die Werke des Barock entstanden sind.
Seine Einspielung aller Beethoven-Symphonien mit den London Classical Players von 1987 bis 1989 war ein Paukenschlag, der in der ganzen Musikwelt vernommen wurde. Norrington zeigte mit seiner Darstellung, dass diese Musik weniger einer „Interpretation“ bedurfte als einer strukturierten Aufführungsweise, in der alle Stimmen des Orchesters zu ihrem Recht – und damit zu Gehör – kommen. Mit Instrumenten in ihrer Beschaffenheit zur Zeit der Komponisten, mit passenden Verhältnissen zwischen der Zahl der Streicher und jener der Bläser, mit hörbar getrennten ersten und zweiten Geigen und mit einem deutlich schnelleren Tempo. Mit seiner temperamentvollen, etwas aufgekratzten Art nahm er gleichzeitig all den Kritikern den Wind aus den Segeln, die meinten, die historische Aufführungspraxis bedeute automatisch eine vor lauter Korrektheit akademische Bräsigkeit.
Zur Musik, zu seinem Beruf war er auf recht krummen Wegen gekommen. Obwohl er Geige gelernt hatte und ein begabter Tenor war, wollte er als junger Mann nicht glauben, dass er für eine professionelle Musikerlaufbahn geeignet sei. Er betätigte sich als qualifizierter Amateur, bevor er seine Leidenschaft für die damals in England fast unbekannte Musik von Heinrich Schütz entdeckte und 1962 den „Schütz Choir of London“ gründete. Im Zug seiner Arbeit mit diesem Ensemble kam er der Instrumentalmusik und der historischen Aufführungspraxis näher. Norrington beschloss, doch die Musik zu seinem Hauptberuf zu machen. Er schrieb sich zu Studien an verschiedenen Universitäten und Konservatorien ein und nahm Dirigierunterricht bei Sir Adrian Boult. 1978 gründete er sein eigenes Orchester, die London Classical Players. Die Beethoven-Symphonien wurden das gemeinsame Meisterstück, die Classical Players machten weiter bis 1997. Sir Roger warf mit ihnen vibratofreie Schlaglichter auf das vermeintlich wohlvertraute Repertoire, etwa die Symphonien von Mendelssohn, Schubert und Schumann. Dann aber machte er die ersten Ausreißer zu Komponisten, an die sich andere Mitstreiter der historisch informierten Aufführungspraxis noch nicht herantrauten: Berlioz, Bruckner, Smetana und schließlich – eine CD mit Ouvertüren von Richard Wagner.
Sir Roger schaffte es damit zwar nicht nach Bayreuth, aber immerhin an die Spitze eines der angesehenen Orchester Deutschlands: 1998 wurde er Chefdirigent des damaligen Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR. Dort blieb er bis 2011 und kreierte mit einem „normalen“ Orchester den „Stuttgart Sound“, sein Ideal von einer Repertoireerneuerung im Geist größtmöglicher Transparenz und Unmittelbarkeit. Norringtons oft sprödes Auftreten, mit dem er der Musik alles Nebulöse und Verschwommene sogenannter „romantischer“ Interpretationen austrieb, erregte nicht selten harsche Kritik und Ablehnung. Wer möchte, kann sich selbst ein Urteil darüber bilden: Es gibt bei Hänssler eine Kassette mit zehn CDs, die Höhepunkte der Romantik im „Stuttgart Sound“ versammelt. Und selbst wenn es wissenschaftlich erwiesen ist, dass Vibrato in Partituren von Schumann, Brahms, Bruckner und Mahler vorgesehen, wenn nicht sogar erwünscht war: Sich auf Mahlers Vierte in Norringtons geradliniger, die Töne in herben Farben zum Leuchten bringender Art einzulassen, das ist wie ein Gang durch jene klar konturierten Landschaften, wie sie Mahler von seinen Komponierhäuschen in den Bergen und an Österreichs Seen im Wandel der Jahreszeiten vor Augen hatte.
Sir Roger Norrington war ein Dirigent, der, statt dem Mainstream zu folgen, seinen eigenen Weg definierte und verfolgte. Er nahm seine Mission ernst, dies aber mit jenem Augenzwinkern, wie es auf den Britischen Inseln weit verbreitet ist. „Now I go and make my art“, beendete er einmal ein Gespräch in der Pause eines Konzertes und ging hinaus aufs Podium. Zum letzten Mal gab Sir Roger Norrington „seine Kunst“ im November 2021 auf einem Podium zum Besten. Wie das Orchestra of the Age of Enlightenment nun mitteilt, ist er am 18. Juli im Alter von 91 Jahren verstorben.