Die Beziehung zwischen dem deutschen Kino und den Filmfestspielen von Cannes ist, gelinde gesagt, kompliziert. Die Deutschen, die sich für eine große Filmnation halten, sähen gern öfter eine ihrer Produktionen im Wettbewerb von Cannes, am liebsten jedes Jahr. Die Filmfestspiele, die sich, übrigens zu Recht, für das größte und wichtigste Festival der Welt halten, laden aber nur alle Jubeljahre einen deutschen Beitrag in die Konkurrenz um die Goldene Palme ein.
Zuletzt war es 2023 „Perfect Days“ von Wim Wenders; aber der zählt ja nicht richtig mit, weil er in Frankreich noch berühmter ist als bei uns. Davor jedoch klafft eine Lücke von sieben Jahren bis zu Maren Ades Film „Toni Erdmann“, der 2016 unverdienterweise keinen Preis in Cannes gewann; und in dem vorangegangenen Vierteljahrhundert war an der Croisette überhaupt nur ein einziger Wettbewerbsbeitrag aus Deutschland gelaufen, abgesehen natürlich von zwei weiteren Filmen von Wim Wenders, der in Cannes eben einfach dazugehört.
Alles reden darüber, keiner hat ihn gesehen
Was also tun? Als das Fördergeld hierzulande noch reichlicher floss, hat die deutsche Kinobranche mit pompösen Empfängen und abendlichen Schlemmereien an verschiedenen Locations der Festivalstadt dagegenzuhalten versucht, aber rasch wurde klar, dass sich die Leitung der Filmfestspiele davon nicht beeindrucken ließ. Zuletzt wartete man nur noch ab und nörgelte leise hinter den Kulissen. Und siehe da – Cannes hat sich erbarmt und in diesem Jahr einen deutschen Beitrag in den Wettbewerb geladen, nur eben keine der großen, sechsfach geförderten Prestigeproduktionen der Branche, sondern den zweiten Spielfilm der selbst hierzulande wenig bekannten Regisseurin Mascha Schilinski, „In die Sonne schauen“.
Alle reden darüber. Keiner hat ihn gesehen. Der Verleih teilt mit, der Film handle von vier Frauen aus verschiedenen Epochen, deren Leben „auf unheimliche Weise mit einander verflochten“ seien. Auf Youtube gibt es seit Kurzem einen Trailer, in dem abwechselnd Platt- und Hochdeutsch gesprochen wird, die Sonne direkt in die Kamera oder seitlich durch ein Scheunenfenster scheint, ein Mädchen durch ein Loch in der Holzdecke springt und ein anderes mit einem Rucksack auf dem Rücken einen Fluss überquert, eine Familie in Trauerkleidung in einem Bauernhaus sitzt und ein Mähdrescher seine Arbeit verrichtet.
Das alles in Bildern, die mal altmeisterlich, mal spontan wirken und deshalb viel Raum für Spekulationen lassen. Die Auswahlkommission von Cannes soll dem Film schon vor Weihnachten den Zuschlag gegeben haben, was selten ist bei einem Festival, das seine Preiskandidaten oft erst in letzter Minute benennt. In den Nebenreihen des offiziellen Programms laufen zudem neue Werke von Fatih Akin („Amrum“) und Christian Petzold („Miroirs No. 3“) Es gibt also wieder Hoffnung für den deutschen Film. Jedenfalls bis die Goldene Palme vergeben wird. Dann könnte es wie so oft schon heißen: Immerhin, wir waren mal wieder dabei.