„The Clock“ in Berlin: Wenn die Titanic jede Nacht versinkt

vor 2 Tage 5

Die Turmuhr von Big Ben schlägt Zwölf. Jetzt, genau in diesem Moment, tritt Gary Cooper zum Kampf mit dem Banditen an, der mit dem Zwölf-Uhr-Zug in seine Stadt kommt. Charles Laughton steht weinend im Glockenturm von Notre-Dame. Moritz Bleibtreu als Manni schaut auf die Uhr, während seine Freundin Lola durch die Straßen von Berlin rennt. Leonardo DiCaprio stürmt an Bord der „Titanic“. Charlie Chaplin stempelt seine Lochkarte in „Modern Times“. Paul Newman betrachtet die Hochhausuhr in „Hudsucker – Der große Sprung“. Und Richard Gere legt sich in „American Gigolo“ seinen Anzug für den Nachmittag zurecht. Aber da ist es schon fünf nach Zwölf. Gleich wird Stéphane Audran in „Der Schlachter“ aus ihrem Fenster schauen. Kathleen Turner wird in „Peggy Sue“ auf ihrem eigenen Sofa erwachen. Und Charles Bronson und Henry Fonda werden ihr Duell auf den Straßen der Westernstadt in „Spiel mir das Lied vom Tod“ austragen.

Der Film ist selbst wie eine Uhr, die man lesen kann

Christian Marclays „The Clock“ ist ein Film wie kein anderer. Ein Endlosband aus Kinoschnipseln, ein Bildmosaik aus zwölftausend Steinchen, ein 24-Stunden-Video aus Filmausschnitten, die allesamt von der Zeit handeln, die gerade vergeht: von der Minute, in der wir zuschauen, wie auf der Leinwand dieselbe Minute angezeigt wird, an einem Kirchturm, auf einer Wanduhr, einer Armbanduhr, einem Digitalwecker, dem Display einer Höllenmaschine. Die Uhrzeit, die im Bild erscheint, entscheidet darüber, wie die Geschichte weitergeht: das Liebesmärchen, der Actionfilm, das Science-Fiction-Spektakel, der Western, das Gangsterdrama, der Kostümschinken. Aber wir sehen es nicht, denn der Moment ist gleich wieder vorbei, „The Clock“ läuft unbarmherzig weiter. Der Film ist selbst die Uhr, die er an den zwölftausend Filmclips abliest: eine Uhr aus Bildern, die sich zu einem Tag und einer Nacht ergänzen, dem ewigen Jetzt des Kinos und dem vergänglichen Abdruck der Zeit.

 Szene aus „The Clock“Big Ben zeigt auf halb sechs: Szene aus „The Clock“Christian Marclay. Courtesy White Cube, London

Marclays Videoinstallation, die seit Freitag in der Berliner Neuen Nationalgalerie gezeigt wird, ist in mehrfacher Hinsicht ein Zeitzeugnis, denn auch ihre Entstehung verdankt sich einem historisch günstigen Moment. Als der amerikanische Künstler 2007 in London an seinem Projekt zu arbeiten begann, war die DVD-Produktion auf ihrem Höhepunkt, ein Großteil des filmischen Erbes stand, wenigstens im englischsprachigen Raum, in digitaler Qualität auf den runden Scheiben zur Verfügung. Schon bald beschäftigte Marclay sechs Assistenten, die für ihn drei Jahre lang Spiel-, Dokumentar- und Fernsehfilme nach Szenen durchmusterten, in denen Uhren vorkamen.

Seine eigene Arbeit bestand darin, das Material mithilfe der neuesten Editor-Programme auf einem Mac-Computer zu einem vierundzwanzigstündigen Bilderstrom zusammenzuschneiden. Während sich aber die Computertechnologie seither immer weiter entwickelt hat, sind heute viele der Filme, die Marclay verwendet hat, auf DVD vergriffen und als Stream nicht in der gleichen hohen Auflösung wie damals verfügbar. Sein Film, der die Minuten des Tages herunter zählt, trägt selbst den Stempel eines geschichtlichen Augenblicks, der so nicht wiederkehrt.

Nur zweimal wird die Neue Nationalgalerie ganztägig geöffnet

2011 gewann „The Clock“ den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig. Seitdem durchstreift in einem unaufhörlichen Triumphzug die Museen der Welt, allein in diesem Jahr war er im New Yorker MoMA, im Kunstmuseum Stuttgart und in der Isländischen Nationalgalerie in Reykjavik zu sehen, bevor er nach Berlin kam. Dabei widerspricht seine innere Logik der Ordnung der Schauplätze, an denen er vorgeführt wird, denn Museen haben feste Öffnungszeiten, während „The Clock“, sobald er mit der Ortszeit synchronisiert ist, eigentlich in Endlosschleife laufen muss, Tag und Nacht.

 der amerikanische Künstler Christian MarclayGenie am Schneidetisch: der amerikanische Künstler Christian MarclayThe Daily Eye

In Berlin können nun jeweils knapp hundert Besucher den Film während des Tages in einem eigens aufgebauten Kinosaal im Inneren des Kubus von Mies van der Rohe ansehen. Die Abend- und Nachtsequenzen von „The Clock“ dagegen bleiben im Dunkel des verschlossenen Museumsbaus. Nur zweimal wird die Neue Nationalgalerie in den kommenden Wochen ganztägig geöffnet sein. Dann könnte man, wenigstens theoretisch, vierundzwanzig Stunden in Marclays Installation verbringen und dem Vergehen der Zeit in Echtzeit zuschauen.

Wirklich gelungen ist das, nach den vorhandenen Berichten zu schließen, fast niemandem. Aber es gibt Museumsbesucher, die gesehen haben, wie Schlag Mitternacht Orson Welles als Naziverbrecher Kindler in „Die Spur des Fremden“ von 1946 vom Schwert einer Uhrenfigur auf dem Kirchturm der amerikanischen Kleinstadt durchbohrt wird, in der er sich verborgen hält, und andere, die in den frühen Morgenstunden miterlebt haben, wie James Stewart in „Fenster zum Hof“ um 1 Uhr 55 durch sein Teleobjektiv schaut, wie Tom Cruise in „Eyes Wide Shut“ um 4 Uhr 14 zu Nicole Kidman nach Hause kommt und Bill Murray in „Groundhog Day“ um sechs Uhr von seinem Radiowecker mit „I Got You Babe“ geweckt wird. Im Internet kann man Listen der Filme abrufen, die in „The Clock“ vorkommen, und bruchstückhafte Beschreibungen der Szenen, die Marclay verwendet hat. Zuschauer, die vier, sechs oder zwölf Stunden durchgehalten haben, erzählen von Neugier, Müdigkeit, Verzauberung, Nostalgie, Spannung und Gleichgültigkeit in ständigem Wechsel.

 Zeiger und Zifferblatt aus „The Clock“Der Mechanismus des Kinos: Zeiger und Zifferblatt aus „The Clock“Christian Marclay. Courtesy White Cube, London

Dabei liegt die eigentliche Faszination von Marclays Film nicht in seiner Dauer, sondern in seiner Vollständigkeit. Indem er zu jeder Minute des Tages ein Filmbild fand, hat er zugleich ein Bild für das Wesen des Kinos gefunden, für eine Kunst, die mehr als jede andere in der Zeit gefangen ist – und eben deshalb imstande, sie zu überwinden. Nur hier können sich Augenblicke endlos dehnen und Jahre in Sekunden vergehen. Und nur hier kann eine Minute Erzählzeit eine Minute Echtzeit sein. Diesen Effekt hat sich Marclay zunutze gemacht, indem er ihn auf einen ganzen Tag ausdehnte. Von der Möglichkeit, vierundzwanzig Stunden aus dem Leben eines Menschen, einer Stadt oder eines Landes zu zeigen, haben schon Regisseure wie Hitchcock und Tarkowski geträumt.

Aber Marclay zeigt in Wahrheit nichts, er führt nur vor, was andere gezeigt haben. Er richtet sein Teleobjektiv nicht nach au­ßen, sondern nach innen, auf das Kino selbst. Und wo immer er hinschaut, findet er die Zeit. Er hätte auch, wie in seiner In­stalla­tion „Telephones“ von 1999, nach Telefonen suchen können oder nach Gespenstern. Mit den Uhren jedoch konnte er das Kino aufziehen wie eine Uhr. „The Clock“ ist die schönste Hommage, die man sich vorstellen kann, weil sie das Geheimnis des Mediums enthüllt und gleichzeitig wahrt. Denn die „Titanic“, mit der Leonardo DiCaprio abfährt, wird in der Nacht dieses Films versinken. Aber am Mittag desselben Tages liegt sie wieder unversehrt am Pier.

Christian Marclay. The Clock. Neue Nationalgalerie Berlin, bis 25. Januar. Am 5./6. Dezember und am 2./3. Januar ist die Ausstellung außerhalb der regulären Öffnungszeiten bei freiem Eintritt geöffnet.

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