Philip Herschkowitz: Bis an die Ränder der Tonalität – und darüber hinaus

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In der an wechselvollen Lebensläufen nicht eben armen Musikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts war seiner besonders unwahrscheinlich: Philip Herschkowitz, 1906 im Judenviertel der rumänischen Stadt Iaşi geboren, lernte mit vierzehn das Geigenspiel und kam als Einundzwanzigjähriger an die Wiener Musikakademie. Dort fühlte er sich schnell unterfordert und ging zum Privatstudium zu Alban Berg, dem Schöpfer der Oper „Wozzeck“. Später wechselte er zu Bergs Freund Anton Webern, dem strengeren Lehrer und Meister der kristallinen Abstraktion. Webern unterrichtete ihn bis zum Kriegsausbruch 1939; danach floh Herschkowitz auf abenteuerlichen Wegen über Rumänien auf die sowjetische Seite bis ins usbekische Taschkent.

Philip HerschkowitzPhilip HerschkowitzHollitzer Verlag

Von 1946 an in Moskau ansässig, wurde ihm die Aufnahme in den Komponistenverband verweigert – auch im Osten gab es antisemitische Kampagnen gegen „Kosmopoliten“ (das kommt einem heute noch bekannt vor), die Musik der Wiener Schule Arnold Schönbergs, Weberns und Bergs wurde als „formalistisch“ verunglimpft. Herschkowitz ­fristete seine Existenz mit Korrekturarbeiten und dem Instrumentieren von Filmmusik. Erst seit den späten Fünfzigerjahren verbreitete sich unter jungen Musikern die Kunde, dass in Moskau ein leibhaftiger Schüler Weberns und Bergs lebte, „ein Gast von einem unbekannten Planeten“ (Dmitri Smirnow). Komponisten wie Edison Denissov, Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke nahmen Privatstunden in Herschkowitz Moskauer Wohnung.

Ein „sowjetischer“ Wiener Schüler

Aber auch die „Tauwettergeneration“ der sowjetischen Musik mochte sich nicht lange mit Schönberg und Webern aufhalten. Isoliert und zermürbt von den ständigen Repressalien, versuchte Herschkowitz seit Ende der Siebzigerjahre in den Westen zu gelangen. Es ist das Verdienst österreichischer Kulturpolitik, dass Herschkowitz mit seiner Frau 1987 nach Wien ausreisen konnte, wo er gut ein Jahr später verstarb.

 „Über Musik“. Biografisches. Das musiktheoretische Werk. Das kompositorische Werk.Philip Herschkowitz: „Über Musik“. Biografisches. Das musiktheoretische Werk. Das kompositorische Werk.Hollitzer

Jetzt ist, eine verlegerische Großtat, ein umfangreicher und schön ausgestatteter Band mit Texten von und über diesen „sowjetischen“ Wiener Schüler erschienen. Zu den Herausgebern gehören mit Alexei Lubimov und Elisabeth Leonskaja zwei Musiker, die noch selber bei Herschkowitz Unterricht hatten. Unter den biographischen Materialien im ersten Drittel des Bandes faszinieren – neben den wertvollen „Erinnerungen an Alban Berg“ – zum Beispiel die Auszüge aus Herschkowitz Briefwechsel mit dem amerikanischen Komponisten und Berg-Forscher George Perle, in dem er einen Geistesverwandten erkannte. Heinrich Böll fragte er, ob das deutsche Volk vom Ausmaß der Judenvernichtung gewusst habe. In einem besonders anrührenden Brief an Elisabeth Leonskaja, die schon seit 1978 in Wien ansässig war, imaginiert er lange vor der eigenen Ausreise einen gemeinsamen Spaziergang durch diese Stadt vom Schwarzenbergplatz bis zur Gasse „Stoß im Himmel“ und zurück Richtung Oper und Musikverein.

Den geistigen Mittelpunkt des Buches, dokumentiert im zweiten Teil, bildet Herschkowitz’ musiktheoretisches Werk. Während Schönbergs eigene Harmonielehre, 1911 erstmals erschienen, zwar bis an die Ränder der Tonalität führt, aber nicht darüber hinaus, schreibt Herschkowitz gleichsam eine Fortsetzung („Die tonalen Quellen des Schönbergschen Zwölftonsystems“).

Als Komponist noch unbekannt

Man mag den Alleinvertretungsanspruch der Wiener Schule für die musikalische Moderne heute für überholt halten, aber das theoretische Niveau dieser Ausführungen ist bestechend. Von nicht minderer Bedeutung sind Herschkowitz’ Texte zur Formenlehre. Weberns Äußerungen zum Thema sind eher indirekt überliefert (etwa in Form stenographischer Vortragsmitschriften); dagegen bemüht sich Herschkowitz um eine größere Verbindlichkeit. Viele dieser Texte, vor allem die zahlreichen Beethoven-Analysen, lagen bislang nur im russischsprachigen Privatdruck vor.

Als Komponist ist Herschkowitz selbst Experten zumeist noch unbekannt. Erst mit diesem Band liegt überhaupt ein verlässliches Werkverzeichnis vor (auf Grundlage einer älteren, bislang nur an entlegener Stelle publizierten Studie von Margarete Buch). Kompositionen nach Gedichten Paul Celans, aber auch Klaviermusik und Vertonungen rumänischer Lyrik finden sich darin. Unwiederbringlich verloren ist wohl, mit wenigen Ausnahmen, das Frühwerk: Herschkowitz hatte es vor der Flucht aus Wien in zwei Koffern einem Freund übergeben, dessen Familie deportiert und ermordet wurde.

Philip Herschkowitz: „Über Musik“. Biografisches. Das musiktheoretische Werk. Das kompositorische Werk. Hrsg. v. H. T. Ambros/A. Lubimov/E. Leonskaja/A. Grots. Aus dem Russischen von K. Linder, u.a. Hollitzer Verlag, Wien 2024. 444 S., Abb., geb., 48,– €.

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