Herr Albrecht, wo und wie haben Sie die Katastrophe am 15. April erlebt?
Ich war mit meiner Familie zu Besuch in Westfrankreich. Alle Straßen leer. Das Flimmern der Fernseher hinter den Fenstern. Auf allen Kanälen lief Notre-Dame. Schockstarre. Dann kamen im Minutentakt Interviewanfragen.
Was genau war Ihr Beitrag als neben Barbara Schock-Werner deutscher Beirat im Wiederaufbauteam, um Präsident Macrons Versprechen zu realisieren, Notre-Dame innerhalb der Rekordzeit von nur fünf Jahren wieder im alten Glanz erstrahlen zu lassen?
Als Spezialist für Notre-Dame wurde ich von französischer Seite gefragt, ob ich in dem neu gegründeten Wissenschaftlichen Beirat zum Wiederaufbau mitarbeiten möchte. Ich konnte exakte 3D-Vermessungen der zerstörten Gewölbe zur Verfügung stellen, die ich mit meinem Team kurz zuvor erstellt hatte. Außerdem erforderte die identische Rekonstruktion genaue Kenntnisse der mittelalterlichen Bautechnik, die habe ich erforscht.
Spenden in Höhe von 846 Millionen Euro von 340.000 Beiträgern aus insgesamt 150 Ländern gingen ein, mehr Geld, als verbraucht wurde. Was geschieht mit dem restlichen Geld? Wird es zum Beispiel in das geplante neue „Notre-Dame-Museum“ investiert?
Der Umgang mit den Spendengeldern unterlag von Anfang an einer strengen Kontrolle. Das Geld sollte ausschließlichen dem Wiederaufbau im engsten Sinne dienen. Nach der Eröffnung fließen die Restmittel voraussichtlich in die Lagerung und Konservierung der massenhaft geborgenen Teile und der archäologischen Funde. Die Planung eines neuen Museums im Hôtel Dieu neben der Kathedrale steht gerade zur Diskussion. Unklar ist bisher nicht nur die Finanzierung, sondern auch die museale Ausrichtung. Es scheint nicht sinnvoll, hierfür die bereits hervorragend präsentierten Bestände aus dem Musée de Cluny und dem Louvre anzutasten. Vermutlich läuft es auf eine Inszenierung der Kathedralbaustelle hinaus: Bautechnik, Werkzeuge, Wiederaufbau und ein spektakulärer Gang durch die Kathedrale mit VR-Brille. Wenn das Geld reicht!
Befürchten Sie, dass die restaurierte Kathedrale mit ihrer erneuerten Beleuchtung und den nun viel helleren, da gereinigten Kalksteinwänden wie einst Michelangelos vom jahrhundertealten Ruß gereinigte Sixtina-Fresken von Kritikern als „zweites Disneyland“ diffamiert werden könnte? Wenn ja, was entgegnen Sie?
Der Innenraum wurde von der unglaublich dicken Schmutzschicht fast erstickt. Nach der Reinigung ist die Qualität der Skulptur endlich wieder erlebbar. Die Oberflächen im Mittelschiff haben nun einen steinfarbenen, dünnen Schutzanstrich erhalten. Die Kapellenwände leuchten in den bunten Farben, die unter dem Schmutz fast intakt zutage traten. Es wurden kaum Ergänzungen hinzugefügt. Sensationell! Die architektonischen Glieder sind nach dem Farbschema des 19. Jahrhunderts neu gefasst. Das ist nicht ganz konsequent, aber vertretbar. Kritik wird es vielleicht geben, Notre-Dame hält das aus. Die neue Beleuchtung wird übrigens gerade eingestellt. Das lässt sich nachjustieren.
Vor dem Brand wurden in Notre-Dame jährlich mehr als 2000 Messen und Andachten zelebriert. Ändert sich durch die teilweise Rekonstruktion im Innern künftig etwas am Kirchenbetrieb oder schlicht deshalb, weil die Kathedrale wie der Louvre als eine Art Museum die nächsten Jahre von Besuchern überrannt wird?
20 Millionen Besucher gab es schon vor dem Brand pro Jahr. Durch die große Medienpräsenz ist ein noch größerer Massenandrang zu erwarten. Eine neue Besucherführung soll ein Chaos verhindern, Liturgie und Tourismus werden stärker getrennt. Gerade wurde der Wettbewerb zur Neugestaltung des Vorplatzes unter- und überirdisch beschlossen. Begrünung oben, touristische Erschließung unten. Der Zugang wird kanalisiert und mit didaktischen Angeboten angereichert. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Wenn Sie bitte einmal das Unmögliche versuchen und die singuläre Bedeutung von Notre-Dame innerhalb der europäischen Kathedralgotik kurz beschreiben . . .
Schon von den Dimensionen her war Notre-Dame ein Größensprung: länger, höher, weiter als alles Dagewesene, ermöglicht durch konstruktive Innovationen und baumeisterliche Erfahrung. Um das einheitliche Erscheinungsbild zu wahren, hat man stets an der ursprünglichen Struktur von Grund- und Aufriss festgehalten. Neuerungen schleichen sich zunächst im Detail ein: Sie zeigen sich im Innenraum zum Beispiel an den 2000 Kapitellen. Sie überragen in der bildhauerischen Qualität alles, was wir aus Europa kennen. Aber bis heute erfindet sich Notre-Dame immer wieder neu: Die Fassaden, Portale, Rosenfenster, die Kapellen, die immer wieder erneuerte Chorausstattung, all das hat weit über Frankreichs Grenzen hinaus künstlerische Standards gesetzt.
Gibt es durch die Restaurierung auch neue Erkenntnisse zur Baugeschichte?
Dank der genauen Vermessung, naturwissenschaftlicher Analysen von Hölzern und Metallen lässt sich die Bauzeit genau bestimmen. Unter dem Schmutz kamen Hunderte von Steinmetzzeichen ans Licht, die Steinoberflächen gaben Bearbeitungsspuren preis. Diese neuen Befunde widerlegen eine etablierte Chronologie, die auf Stilvergleichen basiert. Wir sehen klarer: Unterschiedliche Formen sind nicht die Folge einer zeitlichen Entwicklung, sondern Spuren mehrerer gleichzeitig arbeitender Ateliers, die in unterschiedlichen Stilen arbeiten.
Nach dem Wiederaufbau wird die Bauhütte aufgelöst. Wie werden die zahlreichen Erkenntnisse in den zukünftigen Alltag der Denkmalpflege eingehen?
Gerade wurde beschlossen, das sehr erfolgreiche „chantier scientifique“ zu verstetigen. Dieser Zusammenschluss der Wissenschaftler wird sich regelmäßig treffen und frankreichweit, hoffentlich bald auch international, die Erforschung der Monumente zu unterschiedlichen Aspekten vorantreiben. An diesem Austausch sind interdisziplinär sowohl die Geisteswissenschaften als auch die Naturwissenschaften beteiligt.
Das Schwierigste schien die Rekonstruktion des bleiverseuchten Daches zu sein, für das im Mittelalter ein eigener Eichenwald angepflanzt worden war. Wo lagen hier die größten Probleme?
Die Eichen waren kein Problem, davon gab es ausreichend, in bester Qualität. Schwierig war das Blei, schon wegen der gesundheitlichen Gefahr mussten wir die gesamte Zeit Schutzanzüge tragen, anfangs auch Atemschutzmasken. Für das neue Dach konnte nur eine Firma in Spanien Blei in ausreichender Reinheit herstellen, das musste dann zur Verarbeitung nach England und anschließend für den Einsatz nach Frankreich gebracht werden. Möglichst tagesgenau, denn es gibt keinen Lagerplatz auf der Baustelle.
Sind Sie zufrieden, wie man mit dem zerstörten Vierungsturm Viollet-le-Ducs aus dem 19. Jahrhundert verfahren ist?
Dessen Wiederaufbau war alternativlos. Alle anderen Lösungen hätten tiefgreifende Veränderungen an der Bausubstanz erfordert und mittelalterliche Substanz zerstört. Außerdem lagen noch die originalen Baupläne aus dem 19. Jahrhundert vor. Die Entscheidung war nicht schwer. Das Ergebnis ist hervorragend!
Mit einer bei der Restaurierung eingesetzten und ursprünglich für den Wiederaufbau der Twin Towers entwickelten Software können in der Kirche künftig auch rund um die Uhr die Luftfeuchtigkeit und Temperatur am Computer kontrolliert werden. Ist das neue Notre-Dame ein Hightech-Museum, und welche technischen Vorrichtungen wurden installiert, damit sich eine solche Brandkatastrophe nicht wiederholt?
Die Brandmelder haben auch zum Zeitpunkt der Katastrophe funktioniert. Aber man hat an Personal gespart, das war der Fehler. Auch die moderne Technik wird den Menschen nicht ersetzen.
Das Gespräch führte Stefan Trinks.
Stephan Albrecht ist Professor für Mittelalterliche Kunstgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.