Derzeit schalten die ersten deutschen Mobilfunkbetreiber ihre Netze für den Betrieb des GSM-Standards ab, um die Frequenzen für schnelles mobiles Internet zu nutzen. Die Telekom wird im Juni 2028 diesem Beispiel folgen.
Vorsorglich erhalten Kunden per Post neue elektronische und physische SIM-Karten, mit denen sie sich zukünftig im 5-G-Netz einwählen können. Der analoge Brief ist gleichbedeutend mit der amtlichen Mitteilung: die frühe Phase der Digitalisierung gesellschaftlicher Kommunikation endet nach drei Jahrzehnten und mit der Abschaltung der 2-G- und 3-G-Netze eine ganze Ära.
Manch ein Jugendlicher versteht heute kaum noch die Telefon-Metapher auf dem App-Symbol des Smartphones, weil die Kommunikation in weiten Teilen über digitale Plattformen läuft. Der tiefere Sinn der SMS erschließt sich nicht mehr, weil es schwer vorstellbar scheint, wie Menschen ihren Alltag organisierten, als sie nicht von unterwegs Nachrichten schicken konnten.
Das Ende des Globalen Systems für Mobile Kommunikation (GSM) bedeutet auch, dass alte Geräte von einst namhaften Marken wie Nokia, Siemens, Sony Ericsson und Blackberry aus der Zeit vor dem Siegeszug des Smartphones von heute auf morgen endgültig unbrauchbar werden. Damit bleiben sie Erinnerungsstücke an eine frühere Phase des Lebens, in der man Liebesbriefe auf 160 Zeichen schreiben konnte, aber auch bei einer Reise ins Nachbarland in Angst lebte, hohe Roaming-Gebühren für eine SMS zu bezahlen.
Die Textnachricht als Archivar sprachlicher Veränderungen
Diese Beobachtungen sind bereits Vorvergangenheit, denn die Entwicklung von Mobiltelefonen hin zu leistungsstarken Rechnern, die unterwegs dieselbe Leistung erbringen wie frühere PCs, veränderte das eigene Leben in den vergangenen zehn Jahren nicht weniger als die Durchsetzung des GSM-Standards in den 1990er-Jahren. Das Abschalten der beiden Netze, die Mobilfunk zu einer Infrastruktur für alle machten, wirft die Frage auf, ob die alten Geräte nun wenigstens ihre Funktion als Speicher behalten.
Auf dem Nokia aus den frühen 2000er-Jahren lässt sich nach zwei Jahrzehnten immer noch überprüfen, welche SMS angefangen und nicht abgeschickt wurde. Die Programme, mit denen sich ein Nokia-Telefon per Bluetooth auslesen lässt, funktionieren auch nach der Abschaltung des 2-G-Netzes noch. Somit bleiben die Nachrichtenverläufe nach Stichworten auch in Zukunft durchsuchbar. Sie lassen sich als Konversation darstellen, die man – wenn man viel Zeit hat – nachträglich lesen kann.
Auch ein Smartphone ist ein persönliches Archiv, mit dem sich ein Leben erzählen lässt.dpaEin Mobiltelefon aus dem frühen 21. Jahrhundert ist zugleich ein persönliches Archiv, das heute ermöglicht, nachzuvollziehen, wie der Übergang analoger Verbindungen hin zu einer weitgehend digitalen Alltagskommunikation verlief. So lässt sich in der Abfolge der SMS nachlesen, wie sich der Schreibstil verknappte und wie Smileys Einzug in die Schriftsprache hielten. Das sprachökonomische Weglassen von Anrede und Absender begann zumeist noch auf den alten Mobiltelefonen.
Jeder Versuch, das Mobiltelefon eines verstorbenen Familienmitglieds, Künstlers oder Zeitzeugen auszuwerten wie einst das Sichten eines Briefstapels im analogen Nachlass, zeigt, wie langwierig das Zusammensetzen der Spuren eines digitalen Lebens ist. Das Scrollen und Durchsuchen Hunderter Nachrichten ist zeitaufwendig, die Suche nach Informationen, die über Alltagsorganisation hinausreichen, komplex.
Unsere Daten werden heute auf großen Servern gespeichert
Die Begutachtung eines von heute auf morgen unbrauchbaren Nokia-Telefons zwei Jahrzehnte nach seiner letzten Nutzung verweist auf eine Herausforderung, die auch für heute betriebene Mobiltelefone in der Zukunft weiterbestehen wird. Die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung verringert sich nicht. Mit jedem Mobiltelefonwechsel stellt sich die Frage nach dem Verbleib der Daten. Deshalb bieten die großen Hersteller Apple, Google und Samsung Programme an, die das Kopieren der Daten von einem Altgerät ermöglichen.
Der Hauptunterschied zwischen der Generation 2 G und der Generation 5 G besteht darin, dass heute, anders als vor zwei Jahrzehnten, die gesamte digitale Kommunikation über digitale Plattformen abgewickelt wird. Damit entstehen die Archive unseres digitalen Lebens auf Servern der großen Digitalkonzerne. Die private Fotodatenbank, ein Archiv des E-Mail-Schriftverkehrs, die digitale Musikbibliothek: Sie alle sind auf Servern in Skandinavien und, in den meisten Fällen, in den USA gespeichert.
Mobiltelefone greifen nicht nur auf diese Daten zu, sondern legen in vielen Fällen auch eine lokale Kopie von ihnen an. Die Kommunikation, die bei Anbietern wie Whatsapp oder Signal verschlüsselt erfolgt, wird nicht auf Servern gespeichert. Legen die Nutzer kein Backup an, sind die Datenbanken, die diese Programme auf dem Speicherchip des Telefons anlegen, das einzige Archiv des eigenen digitalen Lebens. Diese implizite Funktion des Lebensspeichers hatten auch schon die Nokia-Telefone 1100, 3310 oder 6230i.
Anders als zur Jahrtausendwende verarbeiten die Prozessoren der Mobiltelefone heute deutlich mehr Vorgänge. Die Geschäftsmodelle der Digitalkonzerne haben viele Menschen dazu gebracht, Fotos, Videos und Texte in einem ununterbrochenen Fluss zu produzieren, ohne sie zu löschen. Ohne das geplant zu haben, hinterlassen Smartphone-Nutzer auf ihrem Gerät mehrere Datenbanken, auf denen eher zu viele als zu wenige Informationen über ihr Leben digital gespeichert sind.
Wie reagieren wir auf die Kurzlebigkeit digitaler Angebote?
Wenn Menschen im Laufe ihres Lebens statt Hunderten Briefen Hunderttausende digitale Nachrichten schreiben, stellt das für zukünftige biographische Forschungen neue Herausforderungen dar. Dazu gehört die Zugänglichkeit zu den Lebensarchiven. Da kommerzielle Anbieter den Zugang zu ihren Datenbanken auch für Forschungszwecke grundsätzlich nicht vorsehen, werden die lokalen Kopien auf Mobiltelefonen wichtige Quellen des 21. Jahrhundert werden.
Es gibt in Deutschland noch kein Archiv, das systematisch Mobiltelefone mitsamt den Zugangsdaten als lebensgeschichtliche Quellen sammelt. Auch die Anzahl von Forschungsarbeiten, die individuelle Lebenswege anhand der Auswertung von PC- oder Smartphone-Daten aus einem Nachlass erzählen, ist überschaubar. Dabei wird es zukünftig nur Serverdaten und lokale Kopien geben, um die schriftliche Kommunikation eines Menschen zu rekonstruieren.
Die Fragen, die sich Archive und Historiker stellen, sind auch Alltagsfragen: Wie sichere ich meine Daten, wenn sie auf fremden Servern gespeichert werden? Wie speichert man wichtige E-Mails vom Server des Arbeitgebers im privaten Archiv? Wie reagieren wir auf die eher zunehmende Kurzlebigkeit digitaler Angebote? Mit dem kürzlichen Abschalten von Servern der ersten Phase der Digitalisierung, wie MySQL oder Skype, gingen nicht nur Chatverläufe, sondern auch Kontaktdaten aus den 1990er-Jahren verloren.
Mit welchem Betriebssystem wird es in fünf Jahren noch möglich sein, das Whatsapp-Archiv von 2025 zu lesen, wenn man auf der Suche nach einem wichtigen Detail ist? Bereits heute werden Spezialwerkzeuge und Archive digitaler Geräte benötigt, um Dateien und Datenträger aus der Zeit vor 2000 zu lesen. Und wir wissen, dass die meisten Anbieter, denen wir heute unsere Daten anvertrauen, in 25 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr dieselben Dienstleistungen anbieten werden wie heute – wenn sie dann überhaupt noch existieren.
Mobiltelefone von Verstorbenen enthalten persönliche Daten
Das Abschalten des 2-G-Netzes ist ein Hinweis darauf, dass wir über den Umgang mit den heutigen Fallstricken in der Kommunikation über digitale Plattformen hinaus auch neue Kulturtechniken im Aussortieren, Wegschmeißen, Abspeichern und Aufbewahren erlernen müssen, um in Zukunft verstehen zu können, wie in der Frühphase der digital interagierenden Gesellschaft kommuniziert wurde. Es ist mit einigem Aufwand möglich, eine SMS aus einem alten Nokia auszulesen und in PDF-Form abzuspeichern.
Wie in Zukunft Archive von Chatverläufen auf Signal oder Whatsapp angelegt und ausgelesen werden können, ist eine offene Frage, die sich Familien spätestens nach dem Ableben einer geliebten Person stellt. Wird das Smartphone aufbewahrt? Ist das Passwort bekannt? Digitale Anbieter haben das unlängst als Geschäftsfeld erkannt und bieten inzwischen neue Dienstleistungen für das Verwalten des digitalen Nachlebens an, nutzen aber auch diese Daten, um Algorithmen zu trainieren.
Archive und Forschungseinrichtungen müssen sich jetzt fragen, wie sie auf die Herausforderung reagieren wollen, dass immer mehr Bereiche des Lebens über das Telefon abgewickelt und damit immer mehr Daten abspeichert werden.
Der Autor leitet eine Hans-Böckler-Nachwuchsforschungsgruppe an der Fernuniversität Hagen, die die Digitalisierung von Öffentlichkeit erforscht.

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