Kinderbilder in Hamburg: Bei diesem Thema irrte Adenauer sich gewaltig

vor 16 Stunden 2

„Paula, komm zu Mama!“, ruft die junge Frau im Park. Und fröhlich kommt Paula angerannt – auf vier Beinen, einen farbenfrohen Strickpulli über dem schwarzen Fell. Wir leben in einer Gesellschaft, in der im emotionalen Haushalt einer wachsenden Zahl von Menschen Hunde die Rolle einnehmen, die früher Kinder spielten. Da kommt die Ausstellung „Kinder, Kinder!“ im Hamburger Bucerius Kunst Forum gerade recht. Sie lässt wieder Kinder und Kindheit zu ihrem Recht kommen, stellt lachende und ernste, verschmitzte und traurige, spielende und arbeitende und – ja auch das – auf dem Totenbett liegende Mädchen und Jungen vor Augen. Die 150 ausgestellten Gemälde, Grafiken, Fotografien und Skulpturen, die die Kuratorin Katrin Dyballa zusammengetragen hat, sind anrührend, nicht selten auch amüsant und immer voller spannender Details.

Die meisten gehören auch künstlerisch zur ersten Liga, darunter Werke von Tizian, Anthonis van Dyck, Kokoschka, Paula Modersohn-Becker, Murillo, Böcklin, Runge, Joshua Reynolds und Gerhard Richter. Die Exponate sind auf sechs thematische Räume verteilt. Sie widmen sich der Eltern-Kind-Beziehung, dem sozialen Status der Porträtierten, den Rollen, die ihnen zugewiesen werden, der kindlichen Lebenswelt zwischen Spielzimmer und Schule sowie dem frühen Tod. Indem die Werke einen Zeitraum von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart umspannen, wird deutlich, wie sehr die kindliche „Natürlichkeit“ kulturell überformt ist, wie stark der Blick der erwachsenen Künstler und Auftraggeber auf die Kinder von den Zeitumständen, der gesellschaftlichen Stellung, der politischen Funktion ihrer Darstellung abhängt.

Töchter als Unterpfand, Söhne als Stammhalter

Das zeigt sich schon in den bildlichen „Familienaufstellungen“, die als thematische Keimzelle die Schau eröffnen. Dass die Mutter-Kind- gegenüber den Vater-Kind-Darstellungen dominieren, spiegelt nicht nur die übliche familiäre Rollenverteilung, sondern auch den Einfluss der Religion. Maria und Jesus prägen als idealtypisches Mutter-Kind-Paar auch noch im bürgerlichen Milieu des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts die Bildsprache. Zwar sind in der Ausstellung vereinzelt auch Väter in inniger Verbindung mit ihren Kindern zu sehen. Doch meistens überwiegt, wenn sie ins Bild kommen, der Gestus der Distanz, bestimmt die politisch-dynastische Symbolik die Komposition: Töchter werden bereits im Kleinkindalter als Ehekandidatinnen und Unterpfand für künftige Bündnisse abgebildet, Söhne hingegen als Garanten für den Fortbestand des Hauses.

 Daphne Wrights „Söhne“, 2011Unheimliche Familienaufstellung: Daphne Wrights „Söhne“, 2011Courtesy the artist and Frith Street Gallery, London

In einem Porträt Tizians blickt der schwertgegürtete Herzog von Urbino den Betrachter stolz an, während sein kleiner Sohn zu ihm hochschaut. Die eine Hand des Kindes fasst nach der des Vaters, die andere ruht auf einem neben ihm stehenden Harnisch, eine Rüstung, in die er noch hineinwachsen muss, um seine Aufgaben als Stammhalter und militärischer Nachfolger zu erfüllen. Der Blick auf eine benachbarte Fotografie von Max Scheler aus dem Jahr 1963 zeigt, dass solche Konstellationen auch dem bürgerlich-demokratischen Zeitalter nicht ganz fremd sind: Zu sehen ist Willy Brandt, damals Bürgermeister von Berlin, auf dem Spaziergang mit zwei Söhnen. Dem kleineren hat er die Hand auf die Schulter gelegt, der größere wendet sich lebhaft, mit einer Frage oder Bemerkung, zu seinem Vater. Doch Brandt blickt mit staatstragender Abwesenheit in die Ferne. Auf erhellende Gegenüberstellungen dieser Art, in denen Umbrüche, aber auch Konstanten in den Gefühlswelten sichtbar werden, stößt der Besucher immer wieder.

Fröhliche kleine Strolche waren ein eigenes Genre der Kunst

Ein eigener Abschnitt ist Kindern in „einfachen Verhältnissen“ gewidmet. Deren harsche Wirklichkeit bekommt man allerdings nicht unbedingt zu sehen. Die malerisch zerlumpten Straßenjungs auf den Gemälden von Murillo sind fröhliche kleine Strolche, immer zu Streichen aufgelegt – eine romantisierende Verklärung der Armut, die den Geschmack des wohlsituierten Publikums in ganz Europa traf und ein eigenes Subgenre begründete. Und die Kinder in der sauerländischen Seilermanufaktur, gemalt um 1795 von Johannes Herst, arbeiten, wohlgenährt und gut gekleidet, in frischer Luft unter einem blauen Himmel, der sich über eine idyllische, sonnenbeschienene Landschaft spannt.

 Caspar Netschers „Ein Portrait von zwei Jungen“,  1680-1683Bereit zum nächsten Streich zeigen sie frech aus dem Bild heraus: Caspar Netschers „Ein Portrait von zwei Jungen“,  1680-1683Sammlung Bob Haboldt

Eine soziale Grenze, die eine triste Kinderwelt von ihrer sorglos-wohlhabenden Umgebung trennt, hat Fritz von Uhde seinem Gemälde „Hof in Zandvoort“ (1903) kompositorisch eingeschrieben: In der linken Bildhälfte sitzen vor einer grauen Hauswand zwei ärmlich gekleidete (Dienst-)Mädchen strickend und Früchte auslesend, während die rechte Hälfte den Blick in einen bunt leuchtenden, impressionistisch flirrenden Garten mit einer sich dort offenbar vergnügenden Personengruppe freigibt. Momentaufnahmen einer Kindheit, in der die Straße und der Hinterhof die Spielplätze sind, liefern die Schwarz-Weiß-Fotos von Friedrich Seidenstücker, Aenne Biermann und Herbert List, die Großstadtkinder in der Weimarer Republik und in den Trümmerlandschaften Nachkriegsdeutschlands zeigen.

Bedrückend und bewegend zugleich ist die Begegnung mit den Kindertotenporträts, denen ein eigener Raum gewidmet ist. Es ist der Teil der Aus­stellung, der dem Besucher wohl am fremdesten entgegentritt. Die Bilder von Kindern, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen auf dem Totenbett liegend, stehen unserem Bedürfnis, der Verstorbenen durch Fotos zu gedenken, die sie in aktiven, glücklichen Momenten zeigen, direkt entgegen. Die Porträts der verstorbenen Kinder, mitunter gerahmt von Figuren aus der christlichen oder der mythologisch-antiken Ikonographie, widerlegen einmal mehr die lange gehegte Vorstellung, dass der Tod von Kindern in früheren Zeiten wegen der hohen Kindersterblichkeit in geringerem Maße betrauert worden sei.

„Kinder kriegen die Leute immer!“ Konrad Adenauers Satz, der für den allergrößten Teil des Zeitraums, den die Ausstellung bebildert, eine Selbst­verständlichkeit beschrieb, hat seine Gültigkeit verloren. Welche wirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen das hat, ist allmählich ins kollektive Bewusstsein vorgedrungen. Welchen emotionalen und kulturellen Reichtum eine Gesellschaft verliert, wenn ihr Kinderreichtum versiegt, aber noch nicht. Im Bucerius Forum kann man es sich anschauen.

Kinder, Kinder! Zwischen Repräsentation und Wirklichkeit. Bucerius Kunst Forum, Hamburg; bis 6. April 2026. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

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