„Kaffee mit Croissant in Avignon“: Ré Soupaults Fahrrad-Reisetagebuch von 1951

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Dieses Buch zu lesen, während die Tour de France im Gange ist, hat seinen eigenen, teils irritierenden Reiz: „Heute nach ­Orange mit dem Vélosolex. Hinweg grosse Strasse (Sorgues, Courthezon), Rückweg über Roquemaure (ein Dörfchen mit hübschem Schloss), Villeneuves-lès-Avignon. Insgesamt etwa 55 km. Der Rückweg war viel schöner, weil ich die Landschaft mehr genießen konnte durch die wenig belebten Strassen. Sie ist sehr schön. Zypressen und überhaupt üppige Vegetation. Die Rhone-Brücke ist zerstört u. man setzt mit einer Fähre über den Fluss.“

Überraschen könnte zunächst auch der folgende Eintrag: „9 km vor Avignon, auf dem Rückweg, Benzinpanne. Musste pedalieren u. kam ziemlich müde gegen 7 Uhr an.“

So viel schon erlebt

Das Vélosolex ist ein Fahrrad mit Hilfsmotor. Die Frau, die das alles Anfang Mai 1951 notiert, hat da allerdings schon ganz andere Erlebnisse hinter sich: Geboren 1901 als Meta Erna Niemeyer in Pommern, hatte sie am Bauhaus in Weimar studiert und in Jena Sanskrit, als deutschsprachige Modejournalistin unter dem Pseudonym Renate Green publiziert und in Paris ein eigenes Modeatelier eröffnet. Sie hat Mode für die „Neue Frau“ entworfen, darunter das sagenhafte „Transformationskleid“.

 „Kaffee mit Croissant in Avignon“. Reisetagebuch.Ré Soupault: „Kaffee mit Croissant in Avignon“. Reisetagebuch.Wunderhorn Verlag

1924 von Kurt Schwitters auf den Vornamen Ré getauft, hat sie zunächst den dadaistischen Maler Hans Richter geheiratet, später den Reporter und surrealistischen Dichter Philippe Soupault. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ist sie mit ihm nach Nordafrika und ins amerikanische Exil gegangen. Zurück in Europa nach dem Krieg muss sie sich allerdings ganz neu aufstellen, weil ihr Mann das auch getan hat – mit einer Studentin.

Zwei historische Fahrten

Aber Ré Soupault beweist abermals große Kraft und Erfindungsgabe. Sie macht 1950 eine Fotoreportage über Flüchtlingslager in Deutschland. In Basel lebt sie ärmlich in einer Dachkammer und übersetzt Bücher von Romain Rolland und Lautréamont ins Deutsche. 1951 besucht sie in Avignon die befreundete Schriftstellerin Ilse Langer. Dort kauft sie sich das Vélosolex, mit dem sie zwei – darf man ­sagen: historische? – Fahrten unternimmt: erst durch Frankreich über 749 Kilometer bis Basel, vom September an 1500 Kilometer durch das zerstörte Süddeutschland.

Der Heidelberger Wunderhorn Verlag, der seit 1981 die Werkausgabe Philippe Soupaults herausgibt, hat seit 1996 auch aus dem Werk von Ré Soupault teils ganz Erstaunliches zutage gefördert – neben zahlreichen Essay- und Fotobänden 2022 zunächst das Tagebuch ihrer zweiten Radtour, der durch Deutschland, unter dem Titel „Überall Verwüstung, abends Kino“. Nun folgt unter dem Titel „Kaffee und Croissant in Avignon“ das chronologisch frühere Reisetagebuch, das sie auf losen Zetteln und zumeist auf Deutsch geführt hat. Wenn einmal auf Französisch, hat es der Verleger Manfred Metzner ins Deutsche übersetzt, etwa den beeindruckenden Bericht von einer Kinovorstellung in Avignon, bei der die Zuschauer aus der Demonstration von Atombombentests offenbar den gewünschten Schluss ziehen: „Wir haben die Atombombe, also lasst uns ruhig schlafen.“ Ré Soupault empfindet dies als sehr entmutigend: „Das ist die ganze Lehre, die diese Idioten aus der Tragödie, die unser Jahrhundert ist, gezogen haben.“

Es ist bei Weitem nicht nur ein touristisches Tagebuch (wenn man davon überhaupt sprechen kann), sondern vielmehr eine kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Bestandsaufnahme. Ré Soupault empfindet die Reise als halluzinatorisch, voller Kontraste. Bei Nizza bewundert sie Häuser und fühlt sich heimatlos. In Antibes hört sie ein Gespräch über die Abenteurer der Côte d’Azur: „Heute haben sie eine ­Luxusyacht u. morgen verkaufen sie Ansichtskarten auf der Strasse.“ Beim Stierkampf in Nîmes kommt ihr das Kotzen. In den gemarterten Tieren erkennt sie Christen im alten Rom. Bei Besançon schließlich betrachtet sie Wahlplakate: „Der Kampf ist heftig. Jeder wirft dem anderen die größten Schweinereien vor.“ Aber Ré Soupault weiß auch selbst auszuteilen. Im Tagebuch über die Folgereise wird sie über einen Tankwart, der ihr minderwertigen und zu teuren Treibstoff ins Vélosolex gefüllt hat, sagen: „Der Mann war nicht nur von tierischer Dummheit, sondern auch von tierischer Schlechtigkeit.“

Ré Soupault: „Kaffee mit Croissant in Avignon“. Reisetagebuch 1. Mai 1951 bis 15. Juni 1951. Hrsg. von Manfred Metzner. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2025. 92 S., geb., 23,– €.

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