
Rollstuhlfahrer im Klassenraum (Symbolbild): Rund 40 Prozent der Lehrkräfte sagen, ihre Schule sei »überhaupt nicht barrierefrei«
Foto:Uwe Anspach/ DPA
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Inklusion. Der Begriff steht für ein Menschenrecht , ist in vielen deutschen Lehrerzimmern jedoch längst ein Reizwort. Die Schulen sollen das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung laut Uno-Behindertenrechtskonvention schon seit vielen Jahren umsetzen, doch bis heute wurden vielerorts nicht die nötigen Bedingungen dafür geschaffen. Das geht aus einer aktuellen repräsentativen Forsa-Umfrage unter mehr als 2700 Lehrkräften aller allgemeinbildenden Schularten hervor, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben hat.
An rund der Hälfte der Schulen gibt es demnach bereits inklusive Lerngruppen , also Klassen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung (im Fachjargon: sonderpädagogischer Förderbedarf) gemeinsam lernen. Doch nach Einschätzung vieler Lehrkräfte fehlt es an praktisch allem: an Personal, an Expertise, an Räumen und an genügend Zeit, um allen Kindern gerecht zu werden. Der Überblick.
»Überhaupt nicht barrierefrei«
Fragwürdige Klassenstärken: Kleinere Klassen gelten als hilfreich, um Kinder in stark heterogenen Gruppen besser individuell fördern zu können. Doch fast zwei Drittel der Lehrkräfte geben an, inklusive und nicht inklusive Lerngruppen seien an ihrer Schule gleich groß.
Mangelnde Unterstützung: 86 Prozent der Lehrkräfte finden, dass inklusive Klassen doppelt besetzt sein sollten. Dass also eine reguläre und eine sonderpädagogische Lehrkraft im Team unterrichten sollten; und zwar durchgängig. Doch nur vier Prozent sagen, dies werde an ihrer Schule so umgesetzt. Weniger als zwei Drittel der Lehrkräfte berichten, dass inklusive Klassen zumindest zeitweilig, also stunden- oder tageweise, zu zweit unterrichtet werden.
Fehlende Expertise: 30 Prozent der Lehrkräfte, die inklusiv unterrichten, haben vorher nicht an einer entsprechenden Fortbildung teilgenommen. Fast die Hälfte hat keine sonderpädagogischen Kenntnisse, und bei zwei Dritteln war Inklusion den Angaben zufolge nicht Teil der Lehrkräfteausbildung.
Unpassende Räume: Rund 40 Prozent der Befragten geben an, ihre Schule sei »überhaupt nicht barrierefrei«. Dies gilt auch für Schulen, an denen bereits inklusiv unterrichtet wird. »Das ist für mich ein Skandal«, sagt der stellvertretende VBE-Vorsitzende Tomi Neckov. Nur rund die Hälfte der befragten Lehrkräfte erklärt, an ihrer Schule gebe es extra Räume, um etwa Kinder in Kleingruppen zu fördern.
Mehrheit ist für Inklusion – eigentlich
Neckov spricht angesichts der fragwürdigen Bedingungen sarkastisch von einer »Demotivationsstrategie« für Lehrkräfte und kommt zu dem Ergebnis: »Die Inklusion an Deutschlands Schulen ist in den vergangenen fünf Jahren kaum vorangekommen.«
Zwar sei die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer, knapp zwei Drittel, überzeugt davon, dass das gemeinsame Lernen grundsätzlich sinnvoll ist – wenn denn die nötige Ausstattung sichergestellt ist. Und diese Gruppe sei in den vergangenen Jahren sogar ein wenig größer geworden. Aber es sei kein Wunder, dass unter ihnen nur 28 Prozent das gemeinsame Lernen auch angesichts der gegenwärtigen Bedingungen richtig fänden.
Den Angaben zufolge wirken sich Erfahrungen mit inklusivem Unterricht aber tendenziell positiv auf die Einstellung zum gemeinsamen Lernen aus. Heißt: Lehrkräfte, die inklusiv unterrichten, lassen sich offenbar eher überzeugen als demotivieren – auch, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen.
Die Forderung der Uno
Kinder mit Behinderung wurden in Deutschland jahrzehntelang fast ausschließlich getrennt von anderen unterrichtet, in Förderschulen. Kritiker monierten, damit werde ihnen gesellschaftliche Teilhabe verwehrt, auch weil sie später im Leben schlechte Chancen hätten, einen regulären Arbeitsplatz zu finden.
Erst seit den Neunzigerjahren war, abseits von Modellversuchen, gemeinsamer Unterricht an Regelschulen überhaupt langsam möglich. Die Wende kam im Jahr 2009 – vielmehr: Sie sollte kommen. Damals trat die Uno-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Seitdem ist das politische Ziel klar: Kinder mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam lernen.
Doch noch immer besuchen Zehntausende Schülerinnen und Schüler eine Förderschule . Und bei einigen Lehrkräften hält sich der VBE-Umfrage zufolge hartnäckig die Vorstellung, dies sei am besten so.
Lehrer-Umfrage zur Inklusion an Schulen
Rund ein Drittel der Lehrkräfte findet es selbst bei guten Rahmenbedingungen sinnvoller, wenn Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen unterrichtet werden. Von denjenigen Lehrkräften, die selbst eine inklusive Lerngruppe unterrichten, ist gut ein Viertel dieser Ansicht.
Zu den häufigsten Argumenten, die allgemein gegen Inklusion ins Feld geführt werden, gehören der Personalmangel sowie mangelnde fachliche Expertise an vielen Regelschulen.
Nur drei Prozent würden Förderschulen ganz abschaffen
Angesichts der vielen Bedenken verwundert nicht, dass die große Mehrheit der Lehrkräfte an dem bisher zweigeteilten System mit Förderschulen einerseits und Regelschulen andererseits festhalten will. Gut drei Viertel sprechen sich dafür aus, neben einem inklusiven Schulsystem Förderschulen mehrheitlich oder sogar vollständig zu erhalten. Nur drei Prozent sind dafür, dass Förderschulen abgeschafft werden.
Der schulischen Inklusion im Sinne der Uno-Behindertenrechtskonvention fehlt es in Deutschland damit insgesamt an einer starken Lobby. Unter den aktuellen Bedingungen befürworten nur 17 Prozent aller befragten Lehrkräfte das gemeinsame Lernen.
Dabei führen viele Lehrkräfte eine Reihe von Argumenten an, die für Inklusion sprechen. Rund ein Viertel verweist laut VBE »auf die (bessere) Integration« von Kindern mit Behinderungen. Ebenfalls rund ein Viertel glaubt, dadurch würden Vorurteile und Berührungsängste abgebaut.
VBE-Mann Neckov mahnt, man brauche endlich mehr Ressourcen und vor allem »den politischen Willen, inklusive Beschulung für alle Kinder zu ermöglichen«, um die Uno-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen.