Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder.“ Das hat der berühmteste Sohn der Stadt Ulm gesagt, und eine der berühmtesten Wahlulmerinnen nimmt Albert Einstein doppelt beim Wort, wodurch sie den Existenz-Antagonismus des Weltall-Erklärers mühelos aushebelt: Alina Meissner-Bebrout lebt ihr Leben so, als sei es ein Geschenk des Himmels, und weiß doch genau, dass aus diesem Himmel niemals die Goldtaler auf sie so wundersamerweise niederprasseln werden wie auf das Mädchen im Märchen. Das ist ihre persönliche Relativitätstheorie, die sie zu einer der wenigen Sterneköchinnen in Deutschland gemacht hat.
Ein schicksalhafter Tag im Allgäu
Die Wundertüte des Lebens öffnete sich für Alina Meissner-Bebrout schlagartig an jenem schicksalhaften Tag, an dem sie in einem Allgäuer Feinschmeckerrestaurant probekochen durfte. Bis dahin hatte die Tochter eines Pianisten aus den niederländischen Antillen und einer Physiotherapeutin aus Düsseldorf, die in München geboren wurde und im Unterallgäu aufwuchs, nicht so recht etwas mit sich anfangen können. Doch dieser Tag änderte alles. Sie hatte ihre Bestimmung gefunden, arbeitete zwölf Stunden lang, wäre am liebsten für immer geblieben, bekommt bis heute Gänsehaut, wenn sie davon erzählt – und machte prompt ihre Lehre in dem Haus, das einen Michelin-Stern hatte, ohne dass die angehende Köchin gewusst hätte, was das ist.
Das hat sich längst geändert, und seit vergangenem Jahr leuchtet auch über Alina Meissner-Bebrouts Ulmer Restaurant „bi:braud“ – die phonetische Umschreibung ihres Vaternamens – ein Stern wie über dem Mädchen aus dem Märchen. Sie verdient ihn sich mit einer Küche, die auf Zirkusartistik und Egozentrik vollständig verzichtet und stattdessen das Produkt und die Gewürze, die Region und die Saison in den Mittelpunkt rückt. Als Snacks gibt es eine „Faux Gras“, eine falsche Stopfleber aus Pilz-Creme mit schwarzem Knoblauch und Quitte, ein Kohlrabi-Röllchen im Shiso-Blatt mit Kimchi und ein Tatar vom Rind auf Kartoffelrösti mit Sauerrahmstreifen – drei leicht verständliche Einstimmungen, die man auch ohne jahrelange Sozialisation in der Sternegastronomie mühelos goutieren kann.
Der schönste Teller des Abends
So frisch und munter von der echten Leber geht es weiter. Beim vegetarischen Ceviche wird Sellerie mariniert, gedörrt und gedünstet, dann papierdünn aufgeschnitten und mit einem ebenso fein gehobelten grünen Apfel kunstvoll zu einer Rose geformt, die mit einer Mayonnaise aus Koriander und Cashew-Nüssen als Meeresfrüchteersatz gefüllt und mit einem Sud aus Chili, Tabasco und Zitrusaromen nappiert wird. Die rote Garnele aus Argentinien gart Meissner-Bebrout ganz kurz, krönt sie mit gerösteten Pinienkernen und weißer Tomatencreme und gießt einen klassischen Gazpacho an. Und der schönste Teller des Abends ist ein essbares Gemälde wie von Joan Miró, geschaffen mit ausgestochenen Kugeln aus marinierten Wasser- und Cantaloupe-Melonen und minimal confierten Kartoffeln, die in einem Jalapeño-Schäumchen mit Shiso-Öl-Pünktchen schwimmen. Die Garpunkte bei diesem Spiel mit Konsistenzen und Temperaturen mögen nicht allerhöchsten Ansprüchen genügen, die argentinische Garnele reicht natürlich nicht an die Sensationsqualität ihrer berühmten Schwestern aus Sóller oder Rosas heran. Doch es ist eine Küche, die viel Spaß und gute Laune macht, die nicht mehr sein will, als sie ist und kann, die ganz in sich und ihrer Eigenwilligkeit ruht.
Genauso ist auch Alina Meissner-Bebrout, die sich noch nie um Küchenkonventionen geschert hat. Direkt nach ihrer Lehre war sie tollkühn genug, sich beim Drei-Sterne-Großmeister Sven Elverfeld in Wolfsburg zu bewerben, bekam nach einem Praktikum sofort eine Stelle und lernte anderthalb Jahre lang in der Patisserie des „Aqua“, was absolute Perfektion und Präzision ist. Danach aber gab sie ihrem Leben eine radikale Wendung, bereitete auf einer rustikalen Berghütte in Tirol Kaiserschmarrn und Brettljausen zu, ging dann in die Küche eines Boutiquehotels auf Mallorca, wurde aber kurz darauf von ihrer besten Freundin nach Ulm gelockt, kochte eine Weile lang in einem bürgerlichen Traditionshaus und eröffnete schließlich im jugendlichen Alter von 24 Jahren ihr eigenes Restaurant. „Ich wollte endlich keine Erfüllungsgehilfin mehr sein, sondern meinen eigenen Dickschädel auf den Teller bringen“, sagt Alina Meissner-Bebrout, und das schmeckt man aufs Wort.
Viel Vergnügen im Schatten des Ulmer Münsters
Vor Schärfe und Gewürzen kennt sie nicht die geringste Furcht, vermutlich ein Erbe ihrer karibischen Wurzeln, und schön bunt mag sie es auch. So kommen herrliche Teller wie die ausgelöste Hühnerkeule von einem Demeter-Hof aus der Nachbarschaft zustande, die in Barbecue-Sauce glaciert, auf eine Mais-Creme mit gedünstetem Mangold drapiert und mit einer munteren Mischung aus Langpfeffer, Sichuan-Pfeffer und etlichen weiteren Pfeffersorten exotisiert wird. Und genauso aromenstark ist das Dessert aus Buttermilch-Mousse, Gurken-Brunoise, gebrannter weißer Schokolade und einer Johannisbeeren-Sphäre, die mit Johannisbeeren-Creme und Gurken-Gelee gefüllt ist.
Wie viel Vergnügen diese Küche den Gästen im gut gefüllten „bi:braud“ einen Steinwurf vom Ulmer Münster entfernt bereitet, ist unübersehbar und unüberhörbar. Doch es war ein langer Weg und ein harter, manchmal auch verzweifelter Kampf bis dahin. Als Alina Meissner-Bebrout ihr Lokal vor zehn Jahren eröffnete, stand sie ganz allein in der Küche und blieb es an manchen Abenden auch. Es geschahen keine Wunder, stattdessen dauerte es Jahre, bis die Chefin ihren Stil und das Publikum seinen Weg zu ihr fand. Und auch die aktuelle Krise der Gastronomie mit Kostenexplosion, Mehrwertsteuererhöhung, Personalmangel und Gästezurückhaltung hat Meissner-Bebrout mit voller Wucht getroffen. Doch das ist für sie keine Entmutigung, sondern ein Ansporn, weil die Spitzenküche, komme, was wolle, nicht nur für sie immer eines bleiben wird: eine Welt der Wunder.