Das schmähliche Ende, das Wotan zunächst abwenden will, dann aber in Erkenntnis seiner gebrochenen Macht herbeisehnt, scheint bereits vollzogen, wenn der Vorhang zu Barrie Koskys Inszenierung der „Walküre“ an der Londoner Covent-Garden-Oper aufgeht. Fast zwanzig Monate nach dem feierlichen Einzug der Götter in ihre neue Burg tapst die greise Erda zu Beginn des zweiten Teils von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ im Naturzustand auf den bis zur Hinterbühne geöffneten Raum, als habe sie ihn nie verlassen. In absoluter Stille erhebt sie die runzeligen Arme wie in Zeitlupe und deckt, wie schon im „Rheingold“, die Augen mit den Händen ab, bevor sie, den ganzen Weltschmerz in sich tragend, auf einer Drehscheibe im ewigen Lauf der Erde rotiert.
Erst wenn die fulminanten Klangstürme den Saal durchtränken, die Antonio Pappano im Vorspiel entfesselt, werden die kargen Kulissen aus dem Bühnenhimmel gesenkt, dass niemand im Zweifel sei, hier werde Theater gemacht. Und, trotz Anflügen koskyhaften Kitsches und Schalks, was für ein Theater in großartiger Symbiose mit der Musik! Die elektrisierende Wirkung verdankt sich nicht dem breitgewalzten Konzept des ökologischen Kahlschlags, sondern der psychologisch bis ins letzte Detail reflektierten und geprobten Personenführung, die bei der Erzählung des Dramas um eine dysfunktionale Familie Wort und Musik durch Gestik, Mimik und kleine, vielsagende Einblicke beleuchtet.
Strotzend von Urkraft
Soloman Howards klangvoller Muskelprotz von Hunding demonstriert bei der Rückkehr von der Arbeit als Sicherheitsbeamter dem fremden Gast, dass er über den Körper seiner Frau bestimmt, indem er nach einer Strähne ihres Haares greift, um an ihr zu schnüffeln. Der verwilderte Siegmund verschlingt sein Essen tierartig, während sein widerwilliger Gastgeber bürgerliche Formen wahrt. Überhaupt drängt sich die animalische Natur auf. Die Walküren strotzen vor Urkraft. Die mit Blut und Asche beschmierten Kriegerinnen toben bei ihren Leichendiensten wie Furien über die Bühne. Alessandro Carlettis kunstvolles Licht steigert die Intensität mit schattenrissartigen Bildern, geometrisch fragmentierten Feldern und die Dunkelheit durchbohrenden Strahlen.
In Rufus Didwiszus’ Ausstattung steigen Rauchschwaden über der verbrannten Erde auf. Aus den Astlöchern der ausgehöhlten Weltesche qualmt es noch. Wo im „Rheingold“ dickflüssiges Gold aus dem Stamm floss, quillt in der „Walküre“ Wälsungenblut. Alles ist verkohlt, auch die bei Berührung zerbröselnden Leichen der im Kampf gefallenen Helden, die von den Walküren karrenweise nach Walhall transportiert werden, ebenso die Weltesche und die Holzplatten von Hundings Haus, vor dem Siegmund erschöpft zusammenbricht. Unklar bleibt, ob Erda die Augen im Vorherwissen des sich entfaltenden Unheils zudeckt oder im schaudernden Gedanken an jüngste Schrecken.
Erda als Mutter Natur
Kosky setzt die fast immer präsente Mutter Natur wie ein Leitmotiv ein. Mal wohnt die von Illona Linthwaite dargestellte Figur dem Geschehen als bloße Beobachterin bei, mal agiert sie als Beschatterin und gelegentlich auch als stumme Mitwirkende, wie etwa, wenn sie mit blumengeschmücktem grauen Haar als Frühlingsgöttin erscheint, um die Liebe von Siegmund und Sieglinde mit dem Streuen von Blüten zu segnen.
In dem von Natalya Romaniw und Stanislas de Barbeyrac dargestellten Zwillingspaar finden sich völlig verstörte Wesen ineinander wieder, die beide durch frischen lyrischen Ausdruck beeindrucken. In dem Moment, in dem Siegmund sich des Schwertes bemächtigt, steht Erda plötzlich blutigen Leibes als Verkörperung der Weltesche vor ihm, der er die Waffe entreißt. In „Rheingold“ war die Erdmutter mit Schürze und Kragen als Dienerin der Götter beim opulenten Picknick im Einsatz gewesen. Hier, diesmal als Chauffeurin, kutschiert sie Fricka nicht im Widdergespann zur entscheidenden Konfrontation mit Wotan, sondern in einem wuchtigen Bentley aus den Fünfzigerjahren.
Christopher Maltman als Wotan
Marina Prudenskayas gebieterische Fricka steigt wie die Karikatur einer Film-Diva mit dunkler Brille und in Diamanten triefend aus dem Wagen. Ihre Luxusgarderobe verrät eine Abhängigkeit von Insignien des Reichtums, die suggeriert, dass die Göttergier nach dem Rheingold nicht nur von Machthunger gesteuert ist. Stolz und verbittert faucht sie Christopher Maltmans zur Weißglut getriebenen Wotan an, hält ihm die Ehebrüche und die Selbsttäuschung vor, bis sie ihn schließlich zum Einlenken zwingt. In dieser brüchigen Ehe schimmert noch ein kleiner Funke erotischer Spannung. Doch ist es die Genugtuung, den Ehestreit gewonnen zu haben, der sie schadenfroh an Elisabet Strids Brünnhilde vorbeiziehen lässt. Zuvor hatte die schwedische Sopranistin sich beim ausgelassenen Spiel mit dem Vater in einen Endorphinrausch hineingejuchzt. Jetzt muss sie, für jede Tochter peinlich, seine Beichte anhören. Das ungezähmte Mädchen wird mit einem Schlag erwachsen, verleiht der Rolle jedoch mit leuchtendem Sopran jugendliche Frische. Maltman bringt die Finessen des Liedersängers zur Geltung, um die mit Selbstmitleid, Zärtlichkeit und Resignation einhergehende Brutalität des Götterkönigs zu konturieren. Sein Selbsthass entlädt sich an Siegmund. Wotan ist es, der den eigenen Sohn mit dem Schwert durchbohrt, das zu dessen Schutz bestimmt war. Wütend stochert er in der Wunde, bevor er Hunding mit einer verächtlichen Geste rücklings in den Tod schickt.
Pappano lässt das Orchester zu grandioser Kraft anschwellen und zaubert wie in der Cello-Partie, die Siegmunds aufblühende Liebe beschreibt, sanfte Passagen von zartester Schönheit. Das deutsche Publikum kann sich am 14. Mai ein eigenes Bild machen, wenn die Aufführung live im Kino übertragen wird.