Szene des Spiels: Mit der Erfahrung von 85 Länderspielen sollte die 33-jährige Kathy Hendrich Ruhe und Stabilität in die deutsche Defensive bringen. Ihre Hereinnahme in die Startelf wurde nach knapp einer Viertelstunde zum Bumerang: Bei einer Freistoßflanke in den deutschen Strafraum zog sie ihrer Gegenspielerin Griedge Mbock derart deutlich an den Haaren, dass Schiedsrichterin Tess Olofsson nichts anderes übrig blieb, als auf Strafstoß und Platzverweis zu entscheiden. Eine unerklärliche Aktion der deutschen Abwehrspielerin, um es freundlich auszudrücken.
Ergebnis: Deutschland besiegt Frankreich 6:5 im Elfmeterschießen. Nach 120 Minuten hatte es 1:1 (1:1, 1:1) gestanden. Hier geht es zur Meldung.
Die Kraft der Statistik: Fünfmal standen sich beide Länder bislang in einem EM- oder WM-Turnier gegenüber und die Bilanz ist das, was man gemeinhin als »makellos« bezeichnet: Fünf Siege für Deutschland gab es dabei zu sehen. Eine andere Statistik machte der Équipe Tricolore mehr Hoffnung: Mit zuletzt elf Erfolgen am Stück gingen die Französinnen in das Duell mit den deutschen Fußballerinnen.
Erste Hälfte: 25 Strafstöße gab es bislang bei diesem Turnier zu sehen, dabei wurden mehr verschossen als verwandelt. Diese Serie hätte Grace Geyoro fast ausgebaut, doch ihr schwach getretener Elfmeter nach dem Hendrich-Aussetzer fand gerade noch so in den Weg ins Netz (15. Minute). Ann-Kathrin Berger war zwar noch am Ball, konnte diesen aber nicht mehr entscheidend abwehren. Frankreich führte, Frankreich hatte alles im Griff – Frankreich kassierte den Ausgleich. Eine perfekte Eckballhereingabe köpfte Sjoeke Nüsken am ersten Pfosten wuchtig zum 1:1 ein (25.). Dieser Mutmacher tat dem deutschen Team gut, das nun mit viel Leidenschaft und Bissigkeit den Französinnen das Leben schwer machte. Zwei Viererketten und davor die einsatzfreudige Giovanna Hoffmann verteidigten stark. Erst kurz vor der Halbzeit kamen die in Überzahl spielenden Favoritinnen wieder zu Gelegenheiten, es blieb aber beim Remis nach 45 Minuten.

Kathy Hendrichs Zopfvergehen
Foto: Georgios Kefalas / EPAWücks Bluff: In den sechs Tagen nach dem 1:4-Debakel gegen Schweden ließ Christian Wück keinen Zweifel daran aufkommen, dass die DFB-Frauen mutig an die Aufgabe Frankreich herangehen würden. Sein Team könne gar nicht anders als offensiv spielen, so der Bundestrainer. Mit der Aufstellung widersprach er sich selbst. Durch die Hereinnahme von Hendrich in die Innenverteidigung und den Verzicht auf die Zehnerposition verschob sich der Fokus auf die Defensive. »Stabilität« versprach sich Wück im Interview vor der Partie von dieser Maßnahme. Zudem rückten Hoffmann für Lea Schüller und Franziska Kett für die gesperrte Carlotta Wamser in die Startelf. Für die Linksverteidigerin Kett wechselte Sarai Linder auf die rechte Abwehrseite. Das allerdings nur für 20 Minuten, dann musste Linder verletzungsbedingt Sophia Kleinherne weichen.
Neues Spiel, neue Kapitänin: Mbock war eine von vier Spielerinnen, die neu in die Startelf rückten. Die 30-Jährige übernahm direkt die Kapitänsbinde und sorgte damit für ein Kuriosum: Im vierten Spiel liefen die Französinnen mit ihrer vierten Kapitänin auf.

Sjoeke Nüskens Fehlschuss vom Punkt
Foto: Denis Balibouse / REUTERSZweite Hälfte: Es blieb intensiv, die Deutschen bearbeiteten die Französinnen mit sehr viel Aufwand. In der 57. Minute stockte den unermüdlich anfeuernden deutschen Fans der Atem, als der Ball erneut im deutschen Tor lag. Olofsson erkannte nach Ansicht der Videobilder jedoch auf eine Abseitsposition von Maelle Lakrar im Vorfeld des Treffers. Eine richtige Entscheidung. In der 67. Minute Aufregung auf der anderen Seite: Jule Brand fädelte im Strafraum geschickt ein und holte einen Strafstoß heraus. Nüsken, gegen Dänemark noch vom Punkt erfolgreich, schoss jedoch schwach und gab Pauline Peyraud-Magnin die Chance zur Parade (69.). Damit stand es wieder 14:13 für die verschossenen Strafstöße bei diesem Turnier. Und Frankreich? Enttäuschte in der Offensive komplett. Engagiertes Verschieben genügte den von der überragenden Minge angeführten Deutschen, um die Französinnen in Schach zu halten. Keine Doppelpässe, kein Überladen, keine Finesse. Es blieb nach 90 Minuten beim 1:1.
Die Verlängerung: Was die Französinnen nicht schafften, besorgte dann fast Minge. Eine Flanke ließ sie über den Kopf Richtung eigenes Tor rutschen und Berger musste all ihr Können aufbieten, um im Zurücklaufen gerade noch so zu parieren (103.). Eine spektakuläre Rettungstat! 240 Sekunden vor Abpfiff blendete das ZDF bereits die Wasserflasche von Torhüterin Berger ein, auf der die Elfmeterschützinnen des Gegners zu sehen waren. Ein Lattenschuss von Melvine Malard beendete die zusätzlichen 30 Minuten.

Ann-Kathrin Bergers fantastische Rettungstat in der Verlängerung
Foto: Fabrice Coffrini / AFPDas Elfmeterschießen: Können Sie sich noch an den geckigen Strafstoß des Italieners Simone Zaza beim Elfmeterschießen 2016 im EM-Halbfinale gegen Deutschland erinnern? Einen ähnlich absurden Anlauf gönnte sich die Französin Amel Majri – mit gleichem Ergebnis. Verschossen, damals wie heute. Weil aber auch die erst für die Strafstöße eingewechselte Sara Däbritz nur die Latte traf, ging auch der Shootout in die Verlängerung. Nachdem unter anderem bereits Torfrau Berger einen Strafstoß verwandelt hatte, traf auch Nüsken bei ihrem zweiten Versuch des Abends. Anschließend parierte Berger wie schon gegen Majiri auch gegen die 21-jährige Alice Sombath. Der Schlusspunkt einer bravourösen Leistung.

Gehalten. Halbfinale.
Foto: Fabrice Coffrini / AFPAngegriffener Sieger: Als Erfolgstrainer Wück nach Schlusspfiff die Rot-Szene mit Hendrich noch einmal vorgespielt bekam, verpasste er die Gelegenheit, sich als guter Gewinner zu zeigen. »Ich möchte mich dazu nicht äußern«, sagte er angesichts der glasklaren Szene. Eine unnötige Schmallippigkeit.
So geht es weiter: Am kommenden Mittwoch treffen die DFB-Frauen auf den Topfavoriten Spanien. Am Tag zuvor spielen England und Italien den zweiten Finalisten aus. Beide Partien beginnen um 21 Uhr. Fehlen werden den Deutschen dabei Nüsken nach ihrer zweiten Gelben Karte und Hendrich nach ihrem Platzverweis.