Jedes Jahr im Sommer kommt „Spring“. Das mag man seltsam finden, wenn man den Namen dieser Comic-Anthologie als einen englischen betrachtet, aber selbst dann könnte neben „Frühling“ ja auch „Quelle“ gemeint sein. Und da „Spring“ ja ein in Hamburg angesiedeltes Magazin ist, könnte man dessen Namen auch als deutschen Imperativ lesen: Und die Autorinnen – es sind dezidiert nur Frauen im Heft erwünscht – springen in der Tat; die qualitativen Höhen, die die abgedruckten Arbeiten erreichen, sind im Regelfall erstaunlich.
Ich selbst begann mit der Lektüre zwar erst 2008, mit Nummer 5 von „Spring“, doch meine Begeisterung hatte sich seitdem ständig gesteigert. Zumal sich das Kollektiv, das hier tätig wurde, immer wieder personell erneuert hat. Trotzdem gibt es einige Konstanten: Carolin Löbbert etwa, die in meiner ältesten „Spring“-Ausgabe schon vertreten war, hat diesmal, für die Nummer 22, das Cover gestaltet, und das tat sie auch schon in Nummer 5. Nina Pagalies, Stephanie Wunderlich, Almuth Ertl, Maria Luisa Witte, Larissa Bertonasco, Katharina Gschwendtner – alle sowohl 2008 als auch nun wieder 2022 mit dabei.

Vor vierzehn Jahren waren außerdem zwei Zeichnerinnen im Heft zu finden, die heute zu den größten Stars der deutschsprachigen Comicszene zählen: Ulli Lust, gerade für ihren Band „Die Frau als Mensch“ mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet, und Barbara Yelin, die derzeit als erste Comiczeichnerin Stipendiatin der Villa Massimo in Rom ist. Und auch Claire Lenkova, deren neuer Comic vor wenigen Wochen in diesem Blog gewürdigt wurde, war 2008 Beiträgerin für „Spring“.
Forum für mittlerweile berühmte Zeichnerinnen
Diese drei Autorinnen fehlen 2022, dafür sind reichlich andere Berühmtheiten im aktuellen Heft zu finden. Eva Müller zum Beispiel oder Rotraut Susanne Berner. Und die langjährigen Springerinnen moki, Katrin Stangl und Maren Amini – sämtlich feste Größen nicht nur des Hamburger Frauenkollektivs, sondern des Metiers als Ganzem. Seit Zeichnerinnen die deutsche Comicszene dominieren, ist „Spring“ so etwas wie eine Bestenliste geworden. Aber bekommt man darin auch immer das Beste geboten?

Eindeutig nicht in der aktuellen Nummer 22, wieder erschienen im mairisch Verlag. Ihr Thema lautet „Into the Unknown“ – heutzutage muss es ja Englisch sein, während es vor vierzehn Jahren noch altsprachlich „Alter Ego“ hieß. Aber mit ihrem Latein sind die Springerinnen nicht nur betreffs der Titelwahl am Ende. Die neue Ausgabe wirkt unentschieden und beliebig.
Diesmal setzen sie bei den Einzelbeiträgen auf Kollaboration
Dabei hat man einiges anders gemacht, ist also selbst ins Unbekannte aufgebrochen. Die meisten Beiträge sind in Kooperation entstanden, die meisten als Zeichnerinnenzusammenarbeiten wie bei Katrin Stangl, die sich mit der Outside-Künstlerin Bärbel Lange verbündet hat, oder beim Duo aus Almuth Ertl und Maria Luisa Witte sowie bei der Altmeisterin Rotraut Susanne Berner, die mit zwei jüngeren Münchner Kolleginnen, Amelie Lihl und Ulrike Steinke, ein Trio bildete. Stephanie Wunderlich wiederum tat sich mit ihrer Tochter Amelie zusammen. In all diesen Geschichten entsteht der Reiz aus dem Neben-, bisweilen gar Miteinander der unterschiedlichen graphischen Handschriften, aber leider sind die jeweiligen Handlungen nicht mehr als die Summe ihrer Teile. Eher sogar weniger.

Und moki hat gar einen Mann mit ins Boot geholt: Adam. Mit ihm hat sie eine als „Phönix“ betitelte „Kollaboration zweier Liebender“ geschaffen, die von exorbitanter Eleganz ist – Ligne claire unserer Zeit –, aber leider auch von erstaunlicher erzählerischer Schlichtheit. Nun könnte man den Verfall des weiblichen Monopols in „Spring“ beklagen, aber auch schon an Nummer 5 war ein Mann beteiligt gewesen: Jan-Frederik Bandel, damals in Kooperation von Claire Lenkova. Und das hatte dem Niveau der Sache seinerzeit nicht geschadet.
Warum muss man nur so oft an anderswo erschienene Comics denken?
Das Problem der aktuellen Ausgabe liegt in ihrer Weltverbesserungsabsicht. Carolin Löbbert zeichnet einen Reportagecomic über einen Stadtrundgang durch Altona mit einer Plastikmüll-Expertin und kann sich nicht entscheiden, ob sie dokumentarisch oder allegorisch erzählen soll. Kati Szilágyi hat sich gar ein ganzes aktivistisches Kollektiv als Zuarbeiter gesucht: LeaveNoOneBehind setzt sich für Asylbewerber in der EU ein, aber wer sich daran erinnert, wie mitreißend etwa die Belgierin Judith Vanistendael vor Jahren über die Situation in griechischen Auffanglagern gezeichnet hat, den wird der knappe „Spring“-Beitrag kaltlassen. Gut gemeint ist noch nicht gut gemacht.

Wie man sich überhaupt bei der Lektüre auf so vieles Bessere besinnt: Die Recherche von Larissa Bertonasco zur eigenen Familiengeschichte im faschistischen Italien etwa hält den Vergleich mit Katia Fouquets aktuell entstehendem „Radierer“-Comic über ihren Großvater (ein erster Teil davon ist im Sammelband „Gerne würdest du allen so viel sagen“ erschienen) nicht aus. „Tender“ von Katharina Kulenkampff arbeitet sich an der cartoonesken Funny-Animal-Ästhetik von Anna Haifisch ab, schwimmt sich aber nie frei, weil die Hauptfigur (eine Zikade) zu statisch gezeichnet ist. Und die autobiographische Fluchtgeschichte „My Family Runs“ der ukrainischen Zeichnerin Anna Sarvira nimmt Anleihen bei der Art-Brut-Ästhetik der frühen Birgit Weyhe, ohne aber deren Expressivität zu erreichen.
Die Farbstimmung suggeriert eher Fatalismus als Hoffnung
Bedauerlich auch, dass es diesmal wieder nur zum Einsatz einer einzigen Zusatzfarbe, Grün (oder eher Giftgrün), gereicht hat (es gab schon Ausgaben im Vielfarbdruck). Tatsache ist nämlich, dass das den meisten ohnehin zivilisationskritischen Geschichten eher schadet, weil dieses kalte Grün eher Fatalismus als Hoffnung evoziert. Verblüffend auch die Inkonsequenz, den von Mutter und Tochter Wunderlich gemeinsam gezeichneten Comic „Forest of Uncertainty“ nur mit englischem Text abzudrucken, während alle deutschsprachigen Geschichten konsequent englisch untertitelt sind. Warum nicht die Mühe, es auch deutschen Lesern bequem zu machen?
Es hakt an so vielen Kleinigkeiten in dieser Anthologie, und das trübt den Gesamteindruck. Diese Ausgabe von „Spring“ wird mir als die erste weitgehend enttäuschende in Erinnerung bleiben. Immerhin brauchte es dafür vierzehn Jahre. Und Nummer 23 wird meine Begeisterung für die Vielfalt dieses Projekts im kommenden Jahr hoffentlich neu herstellen.