Frankfurter Anthologie: Über Wendy Copes Gedicht „Das Problem abgrenzen“

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Wir lesen ein Gedicht mit offenem Gegenstandsbezug. Was ist geschehen? Wer hat was getan? Worum geht es genau? Das alles wird nicht gesagt. Stattdessen wird in aller Kürze die Form eines Liebesendproblems beschrieben. Mit Inhalt müssen wir es selbst füllen. Mit Inhalt füllt es die Liebe, wenn sie schlimm und verletzend endet.

Ein Beispiel aus dem Bekanntenkreis. In der Neujahrsnacht schreibt sie ihm noch: Ein gutes neues Jahr meinem angebeteten Schatz. Sie schickt Küsse. Eine Woche später heißt es, ohne dass irgendetwas geschehen wäre, sie könne nicht mehr, sie gehe. Kurz zuvor hatte sie seiner Mutter geschrieben, sie hätten einander ja länger nicht gesehen, aber am Wochenende komme sie. Dass es das letzte Wochenende sein wird, schreibt sie nicht. Sie hatten sich in seiner Stadt verabredet. Sie kam auch, aber nur um sich zu trennen. Die Trennung teilt sie ihm vom Bahnhof aus per E-Mail mit, kommt Minuten danach bei ihm an, um nach der Schlusserklärung sogleich wieder nach Hause zu fahren. Sie will nicht darüber sprechen, keine Fragen beantworten, ihr Entschluss steht fest. Später teilt sie dem Konsternierten abgebrüht (oder verlegen?) mit, es gebe ja sowieso keine guten Trennungen.

Wann wurde zuletzt die Wahrheit gesagt?

Man kann sich solche Albträume nicht ausdenken. Die englische Lyrikerin Wendy Cope, die dieser Tage achtzig wird, greift in ihrem Gedicht das Paradox auf, zu dem sie führen. Es geschieht etwas, das unverzeihlich ist. Nicht die Trennung, sondern die Art, in der sie erfolgt. Nicht die Trennung, sondern die Lüge. Denn rückwirkend erscheint auch der Neujahrsgruß als eine, die Nachricht an die Mutter, das „Ich kann nicht mehr“, das bloß ein „Ich will nicht mehr“ war. Die Lüge infiziert leicht alles, was war. Wann wurde denn zuletzt die Wahrheit gesagt?

Dem (oder der, denn das Gedicht kennt kein Geschlecht) Verlassenen würde es, so Wendy Cope, nicht helfen, zu verzeihen, selbst wenn er (oder sie) es könnte. Denn es würde umgekehrt nicht vergeben, dass die Lüge, die Verstellung durchschaut wurde. Das „einander erkennen“ als Ausdruck der Liebe schlägt um in Unverzeihliches. Wir entschuldigen nur schwer, dass andere uns sagen, wer wir sind. Vor allem, wenn das schlecht für uns ausfällt. Vor allem, wenn wir genau wissen, was wir getan haben.

Unmöglichkeit der Selbstheilung

„And yet“ – und doch kann der so Belogene sich nicht selbst von der Liebe kurieren. Sie hat Züge einer chronischen Krankheit. Er hängt an ihr, was immer sie getan hat. Wendy Cope steht ihm (oder ihr) bei und sagt, er (oder sie) liebe, wofür er (oder sie) sie (oder ihn) gehalten habe, bevor sie (oder er) ihn (oder sie) eines Besseren (genauer: Schlechteren) belehrte. Wir halten mit Liebe an dem fest, was sich bitter als unser Irrtum herausstellte. Wir halten an dem Guten fest, das wir über das Gegenüber gedacht haben, an dem Schönen, als das es uns erschien. Immerhin: Dass man sich nicht selbst heilen kann, lässt die Möglichkeit offen, durch andere geheilt zu werden.

In einem noch kürzeren Gedicht, „Two cures for love“ („Zwei Arten, sich von der Liebe zu kurieren“), schreibt Cope: „1. Don’t see him. Don’t phone or write a letter / 2. The easy way: get to know him better.“ Die beiden Gedichte, die im selben Band „Serious Concerns“ von 1992 nur durch ein paar Seiten getrennt sind, widersprechen einander. Im ersten Gedicht gibt es kein Mittel der Selbstheilung, im zweiten Gedicht soll gerade das leicht helfen, was im ersten das Problem definiert: ihn (oder sie) besser kennenlernen. Wir ziehen das erste Gedicht vor, es ist auswegloser.

Wendy Cope: „Das Problem abgrenzen“

Dir vergeben kann ich nicht. Und selbst wenn,
Du würdest nie verzeihen, dass ich dich durchschaute.
Muss trotzdem weiter an der Liebe kranken,
Die dem galt, was du mir schienst, bevor ich dich erkannte.

Aus dem Englischen von Jürgen Kaube

Defining the Problem

I can’t forgive you. Even if I could,
You wouldn’t pardon me for seeing through you.
And  yet I cannot cure myself of love
For what I thought you were before I knew you.

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