Filmfestival Cannes: Schwangerschaft, Herzinfarkt, Pommes

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Wenn ein Filmfest fast achtzig Jahre existiert, hat es für den Eröffnungsabend nahezu alles schon einmal ausprobiert. Nicht so in Cannes. Auch zur achtundsiebzigsten Ausgabe des Festivals präsentiert man an der Croisette noch einmal nie Dagewesenes: einen Eröffnungsfilm beispielsweise, der zugleich das Spielfilmdebüt einer jungen französischen Regisseurin ist. Das gab es noch nie, und auch die Filmemacherin Amélie Bonnin zeigte sich vor der Premiere am Dienstagabend überwältigt von der Möglichkeit, dass ihr erster Langspielfilm das Festival eröffnen würde. „Ich glaube noch immer, dass es ein Fehler ist“, scherzte Bonnin in einem Interview mit Radio France.

„Partir un jour“ ist ein Wagnis, das von der unbändigen Energie getragen wird, die den Willen zum künstlerischen Durchbruch speist. Der Film beginnt in einer Speisekammer. Zwischen Einweckgläsern und Vorratsbehältern hält Cécile, die die in Frankreich bekannte Sängerin Juliette Armanet verkörpert, einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Sie keucht erschrocken, flucht und versteckt den Plastikstreifen erst mal. Für ein Kind ist kein Platz in ihrem Leben, denn die Chefköchin steht kurz davor, in Paris ihr erstes Restaurant zu eröffnen. Am Telefon verkündet ihre Mutter obendrein, dass der Vater gerade seinen dritten Herzinfarkt hatte, also fährt die junge Frau auf Anraten ihres Freundes und Geschäftspartners, der von der Schwangerschaft noch nichts weiß, zurück in ihren Heimatort, um nach der Familie zu sehen. Und natürlich trifft sie dort auf alte Freunde und eine verpasste Liebe – viel Stoff, um sich mit „Was wäre, wenn“-Fragen herumzuplagen.

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Das Risiko, das Bonnin hierbei eingeht, liegt nicht in der Handlung, sondern in der Entscheidung, aus der Geschichte ein Musical zu machen. Die Gefahr der Blamage minimiert sich natürlich, wenn man eine professionelle Sängerin als Hauptdarstellerin gewonnen hat – wem der Name Juliette Armanet nichts sagt, der erinnere sich an die Olympia-Eröffnung in Paris, wo sie vor einem brennenden Klavier auf einem Boot die Seine herunterfuhr und John Lennons „Imagine“ vortrug.

Chansonklassiker und französische Popsongs

Spontan brechen die Figuren in „Partir un jour“ also immer wieder in Gesang aus. Sie greifen dabei auf französische Popsongs zurück – wenn der Partner die überarbeitete Cécile mit „Alors on danse“ zum Tanz auffordert – oder stimmen alte Chansonklassiker an – etwa als Cécile mit ihrer Mutter, die von Dominique Blanc gespielt wird, das Dalida-Delon-Duett „Parole, Parole“ singt und auf die häusliche Situation umdichtet. Wie Cécile ist auch ihr Vater von der Arbeit in der Küche besessen und stellt das Privatleben hintan, nur ist der Schauplatz diesmal kein Sternerestaurant, sondern eine Truckerkneipe an der Schnellstraße, wo die Tische rot-weiß karierte Decken haben und zu jedem Essen Pommes frites gehören.

Die Konflikte der Familie – was passiert, wenn das Kind aus der Arbeiterklasse sich seiner Herkunft schämt und sie fürs Nachobenkommen verleugnet – geben dem Musikdrama Tiefgang, ebenso der Handlungsstrang, der sich mit Céciles Schwangerschaft beschäftigt. Vater und Freund versuchen in ihre Entscheidung hineinzureden, für Cécile aber steht fest, dass sie kein Kind will.

Und weil all das im aufgeklärten Frankreich spielt, ist eine der stärksten Szenen eine Untersuchung bei einer Hebamme, die die junge Frau im Lauf des Heimatbesuchs trifft. Die setzt Ultraschall ein und – wenn man schon glaubt, nun rutscht alles auf die vorhersehbare moralische Bahn – blickt ihr beruhigend in die Augen: „Du hast noch einen Monat Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Keine Panik.“ Allein mit einer solchen Aussage setzt „Partir un jour“ ein politisches Statement.

Regiedebüts von Kristen Stewart, Scarlett Johansson und Harris Dickinson

Nicht minder symbolisch ist die Wahl dieses Eröffnungsfilms für das Festival. Denn die Leitung hat sich die Zukunft auf die Fahne geschrieben und will jüngeren Filmemacherinnen und Filmemachern eine Bühne bieten. Mit Spannung werden in den nächsten Tagen vor allem drei Debüts erwartet, für die Schauspieler hinter die Kamera gewechselt sind: Kristen Stewart hat sich als Regisseurin mit „The Chronology of Water“ die Autobiographie der Schwimmerin Lidia Yuknavitch vorgenommen.

Scarlett Johansson übt sich mit „Eleanor the Great“ in der Form der Komödie. Und Harris Dickinson, der in den deutschen Kinos Anfang des Jahres noch in „Babygirl“ als dominanter Praktikant Nicole Kidman verführte (die hier am Rande des Festivals den „Woman in Motion“-Preis für die „Förderung der Rolle der Frau im Kino und in der Gesellschaft“ entgegennehmen wird), präsentiert sein Regiedebüt „Urchin“ über einen obdachlosen jungen Mann in London. All das wird in der Nebenreihe „Un Certain Regard“ gezeigt.

Im Wettbewerb tritt die alte Garde, darunter die Dardenne-Brüder, Richard Linklater, Wes Anderson und Jafar Panahi, gegen die neuen Stimmen des Arthouse-Kinos an wie den amerikanischen Horror-Regisseur Ari Aster, den 35 Jahre alten Iraner Saeed Roustaee oder die Deutsche Mascha Schilinski, deren zweiter Spielfilm „In die Sonne schauen“ schon an diesem Mittwoch Premiere feiern wird. Was davon so noch nie da war, wird sich zeigen.

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