Anlässlich des bevorstehenden „Berliner Forums“ hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in einer Pressekonferenz die Chancen und Herausforderungen zweier zentraler europäischer Gesundheitsprojekte beleuchtet: den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) und die neue europäische Nutzenbewertung für Arzneimittel (EU-HTA). Der Datenraum soll zum einen die direkte Patientenversorgung über Grenzen hinweg verbessern (Primärnutzung) und zum anderen die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung ermöglichen (Sekundärnutzung).
Datenaustausch für Urlauber und Co.
Prof. Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF, skizzierte die Relevanz der Vorhaben, die auf den „Cross-border Health-Care-Act“ von 2011 (PDF) zurückgehen. Der EHDS soll die grenzüberschreitende Versorgung verbessern. „Das ist eben wichtig in verschiedenen Szenarien, die ich skizziert hatte, nicht nur im Urlaub, sondern bei vielen, die jenseits der Grenzen berufstätig sind oder einfach nur für eine optimale Versorgung durch Zentren, die einfach vielleicht grenznah sind“, so Treede. Er warnte jedoch vor einer schlechten Implementierung und mangelhafter Datenqualität: „Was heute erlösrelevant ist, beruht ja auf Daten von früher. Wenn man aber nur noch [das] kodiert, was jetzt erlösrelevant ist, kann man überhaupt keine neuen Entwicklungen mit in Angriff nehmen.“
Zudem befürchtet er, dass Deutschland bei der Modernisierung der Diagnosedaten hinterherhinkt. „Da ist meine Befürchtung, dass wir im Moment dabei sind, etwas zu verschlafen, was wir eigentlich selbst bis 2019 mitbetrieben haben, nämlich den Umstieg der Diagnose-Codierung von Version 10 auf Version 11.“ Im Gegensatz zur alten Version sei die ICD-11 eine Datenbank, die „jährlich aktualisiert wird und immer den neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft reflektiert.“
„Was hat der Patient davon?“
Der EHDS hat laut Jana Hassel, Referentin für Digitalpolitik bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, das Potenzial, die Versorgung erheblich zu verbessern, doch die zentrale Frage müsse stets lauten: „Was haben die Patientinnen und Patienten eigentlich davon?“ Diese Frage werde „nicht immer als Erstes vorne herangestellt. Das ist bislang aus unserer Sicht ein Problem,“ sagte Hassel.
Konkrete Vorteile sieht sie etwa darin, dass man „durch eine massenhafte Auswertung von Daten dann auch schneller dazu kommen [könnte], wann Risiken, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen bei Medikamenten entstehen“. Auch für die Forschung zu seltenen Erkrankungen sei der Datenraum vielversprechend. Voraussetzung sei eine hohe Datenqualität, denn „verzerrte oder unvollständige Daten mindern den Nutzen erheblich. Sie können sogar eine eigene Ursache für Schäden bei Patientinnen und Patienten sein.“ Zudem sei ein umfassender Schutz vor Nachteilen essenziell: „Niemand ist bereit, seine Daten freiwillig zu teilen, wenn er befürchten muss, dass durch die Teilung Nachteile bei ihm entstehen.“
Dr. Stephanie Weber vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erläuterte die operative Umsetzung. Der EHDS sei „der erste Datenraum von vielen, die in Europa aufgesetzt werden. Insofern auch so ein bisschen das Versuchskaninchen, das ausprobiert, wie kann denn ein großer Datenraum für Europa funktionieren.“ Eine zentrale Herausforderung sei die Standardisierung von Daten über Sprach- und Systemgrenzen hinweg.
Corona-Pandemie als Katalysator
Als Katalysator für das Projekt habe auch die Corona-Pandemie gedient, bei der das digitale Impfzertifikat gezeigt habe, dass eine europaweite technische Infrastruktur funktionieren kann. Konkret gehe es um primäre Datenkategorien wie das E-Rezept, die Patienten-Kurzakte, Bildgebung, Laborbefunde und Entlassberichte. Die Daten dafür sollen aus der elektronischen Patientenakte (ePA) stammen und über einen „National Contact Point eHealth“ zwischen den Ländern ausgetauscht werden. Auf die Frage, wann die modernere Diagnosen-Klassifikation ICD-11 in Deutschland eingeführt werde, erklärte sie, dass dies ein komplexer Prozess sei, da die alte Version ICD-10 tief in Abrechnungs- und Qualitätssicherungssystemen verankert sei. Ein konkretes Datum könne daher nicht genannt werden.
„Wir üben Europa“
Wichtig ist laut AWMF-Vorsitzenden Prof. Bernhard Wörmann zudem der Start des europäischen Nutzenbewertungsverfahrens (EU-HTA). Es soll den ungleichen Zugang zu neuen Medikamenten in der EU beheben. „Wir üben Europa,“ so Wörmann. Während die Zulassung von Medikamenten seit langem zentral durch die EMA erfolge, sei der tatsächliche Zugang in den Mitgliedsstaaten extrem heterogen. Konkret bedeute das, dass es innerhalb der 27 EU-Staaten Länder gibt, die nur ein Fünftel der zugelassenen Präparate überhaupt haben, so Wörmann.
Der neue Prozess solle den Nutzen eines Medikaments zentral im Vergleich zum bisherigen Therapiestandard bewerten. Die Schwierigkeit dabei: „Was sich im Moment als deutliche Hürde herausstellt, ist, dass der Standard in den verschiedenen europäischen Staaten nicht derselbe ist.“ Dennoch sieht Wörmann eine große Chance: Wenn die Bewertung zentral vorliege, könnten Ärzte und Patienten in Ländern mit bisher schlechtem Zugang Druck auf ihre Kostenträger ausüben. „Die haben ein Instrument in der Hand, mit dem sie sagen, so ist es bewertet worden. Und jetzt macht ihr bitte den nächsten Schritt. Das halte ich für einen Fortschritt.“
Europas KI-Antwort?
Der EHDS und weitere EU-Datenräume waren kürzlich auch Thema während der „Dauphine Digital Days“ in Paris. Dort sprachen Experten aus Forschung, Industrie und Start-ups über ihre Visionen, in denen vertrauenswürdige Datenräume im EHDS und spezialisierte KI-Systeme den entscheidenden Wettbewerbsvorteil bringen sollen. „Das europäische Spiel besteht darin, Geist über Materie zu stellen, Mathematik über Hardware“, erklärte Prof. Jakob Rehof, Direktor des Lamarr-Instituts, gleich zu Beginn. Für den Informatiker, der selbst fast zehn Jahre bei Microsoft arbeitete, liegt die Zukunft in „vertikalen KI-Systemen“ – hochspezialisierten Modellen für Branchen wie Physik, Medizin oder Logistik. Diese sollen auf qualitativ hochwertigen Daten aufbauen, die in europäischen Datenräumen wie dem EHDS geteilt werden.
Emmanuel Bacry, wissenschaftlicher Direktor des französischen Health Data Hub, beschrieb den EHDS als eine „einzigartige Initiative“. „Alle Gesundheitsdaten, unabhängig davon, ob sie von privaten Unternehmen oder öffentlichen Einrichtungen stammen, müssen für die Forschung im öffentlichen Interesse zur Verfügung gestellt werden“, so Bacry. Dies sei ein entscheidender Schritt, um die Abhängigkeit von außereuropäischen KI-Lösungen zu verringern.
„Aufbau der Datenräume kein Selbstläufer“
Doch der Aufbau solcher Datenräume ist kein Selbstläufer. Hubert Tardieu, Vorstandsmitglied der Cloud-Initiative Gaia-X, mahnte einen Strategiewechsel an. Die Zeit der reinen Pilotprojekte sei vorbei. „Wir können Datenräume nicht weiter subventionieren, wenn wir keine Ahnung von ihrer Wirtschaftlichkeit haben“. Für ihn ist die Schaffung tragfähiger Geschäftsmodelle die zentrale Herausforderung der „zweiten Saison“ europäischer Datenräume.
Laut Selma Souihel, stellvertretende Direktorin des KI-Programms am französischen Forschungsinstitut Inria, bedeutet Souveränität auch die Fähigkeit, Verbündete zu wählen. Für Anastasia Stasenko, Mitgründerin des KI-Start-ups Pleias, müsse Souveränität vor allem Wettbewerbsfähigkeit bedeuten. Ihr Unternehmen entwickelt bewusst kleine, effiziente Sprachmodelle, die auf vollständig urheberrechtskonformen Daten trainiert werden. Sie verwies dabei auch auf Projekte wie der spanischen Salamandra-Modellfamilie, die unter anderem vom Barcelona Supercomputing Center entwickelt wurde. Salamandra, das auf Hugging Face verfügbar ist, wurde mit europäischen Daten trainiert und deckt 35 Sprachen ab, darunter Spanisch, Katalanisch, Baskisch, Galicisch und weitere.
Stasenko plädierte dafür, – wie andere auch – sich auf spezialisierte Modelle zu konzentrieren, die bestimmte Aufgaben exzellent lösen, anstatt riesige Alleskönner zu kopieren. Sie verwies auf das Konzept des „kognitiven Kerns“, das auch Andrej Karpathy, einer der Gründer von OpenAI, beschrieb: kleine, aufgabenspezifische Modelle, die durch synthetische Daten massiv erweitert werden. „Wir müssen souveräne KI als wettbewerbsfähige KI verstehen“, forderte sie.
„Rückverfolgbarkeit ist das Herzstück der KI-Souveränität“, so Laurent Lafaye, Mitgründer der Datenaustauschplattform Dawex. Nur wenn jederzeit nachweisbar sei, welche Daten und welche Software-Komponenten in einem KI-System stecken, könne man von echter Kontrolle sprechen. Dies erfordere eine lückenlose Dokumentation der gesamten Lieferkette. Europas Weg zur KI-Souveränität sei nicht über die Kopie amerikanischer Strategien möglich, sondern über einen eigenen Ansatz, der auf Qualität, Transparenz und Kooperation basiert. Das Ziel ist laut Souihel „Europa zu einem Ort zu machen, an dem KI erfunden und nicht importiert wird“.
(mack)









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