E-Rezept: Ein Apotheker über den frustrierenden Alltag

vor 23 Stunden 3

Seit Anfang 2024 ist das E-Rezept Pflicht. Doch was in der Theorie nach Effizienz und Modernisierung klingt, entpuppt sich im Apothekenalltag oft als Quelle für Frust und befeuert weiter das Apothekensterben.

Andreas Patrick Schenkel ist Apotheker und Diplom-Pharmazeut und praktiziert in einer Apotheke in einer Kreisstadt in Württemberg.

(Bild: Foto Keidel)

Wir haben mit Andreas Patrick Schenkel über seine täglichen Erfahrungen als Apotheker mit der Telematikinfrastruktur, der „Gesundheitsdatenautobahn“, widerspenstiger Software und verunsicherten Patienten gesprochen.

Seit das E-Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente verpflichtend ist, sind jetzt (fast) zwei Jahre vergangen. Was sind aus Ihrer täglichen Praxis in der Apotheke die größten Ärgernisse?

Das häufigste Problem ist nach wie vor, dass manche Arztpraxen die E-Rezepte erst Stunden nach dem Patientenkontakt signieren. Die Patienten stehen dann oft schon nach einer halben Stunde bei uns in der Apotheke und wir können nichts für sie abrufen. Das liegt daran, dass Ärzte für eine sofortige „Komfort-Signatur“ extra bezahlen müssen und viele stattdessen die kostengünstigere Stapel-Signatur nutzen, bei der Rezepte gesammelt und später am Tag freigegeben werden. Dieses Problem zieht sich schon seit der Testphase durch. Hinzu kommen noch die Störungen der Telematikinfrastruktur.

Das führt sicher zu schwierigen Situationen mit den Patienten?

Es ist sehr vertrackt. Die Patienten bekommen in der Praxis oft nur gesagt: „Das ist auf Ihrer Karte.“ Wenn wir dann nichts abrufen können, denken manche, die Apotheke sei zu blöd, und gehen zur Konkurrenz oder wandern frustriert zum Versandhandel ab. Wir müssen den Leuten dann raten, eine Runde durch die Stadt zu drehen oder sich in ein Café zu setzen und es in einer halben Stunde erneut zu versuchen. Das ist ein tägliches Ärgernis. Wir entwickeln quasi schon Abwehrstrategien, damit die Patienten nicht denken, wir hätten es nicht drauf.

Gibt es auch andere Möglichkeiten? Cardlink soll es ja zum Beispiel auch ermöglichen, E-Rezepte zeit- und ortsunabhängig einlösen zu können.

Nur bedingt. Cardlink wurde ursprünglich eingeführt, damit der Versandhandel leichter an die E-Rezepte kommt. Mittlerweile gibt es das auch für Vor-Ort-Apotheken, oft über apothekeneigene Apps. Das Problem ist aber: Gerade unsere Hauptzielgruppe, die älteren Patienten, besitzt oft kein modernes Smartphone, das die nötige NFC-Technologie beherrscht. Und selbst wenn, ist es oft eine Bastelei, die Gesundheitskarte richtig an die NFC-Schnittstelle zu halten. Zudem gibt es viele verschiedene Apps. Wechselt ein Patient die Apotheke, muss er sich unter Umständen eine neue App installieren. Die offizielle E-Rezept-App der Gematik ist dagegen ein Ladenhüter, die nutzt fast niemand.

Sie sprechen von Ausfällen und sperrigen Systemen. Wie stabil läuft die Telematikinfrastruktur (TI) insgesamt, und welche Rolle spielen die Softwareanbieter wie CGM dabei?

Wir haben immer wieder Ausfälle, die sich nicht erklären lassen. Mal dauert es nur ein paar Minuten, manchmal bockt das TI-System aber auch für zwei Stunden. Dann schieben sich die Dienstleister gegenseitig die Verantwortung zu. Was uns Sorgen macht, sind Ankündigungen wie die von unserem Anbieter CGM, dass es nach dem Tausch der Konnektoren (Anm. d. Redaktion: Dabei handelt es sich um besonders gesicherte Hardware-Router) zu Problemen kommen kann, bei denen wir jede Änderung an einem Rezept einzeln mit PIN-Eingabe signieren müssen. Das verlangsamt unsere Arbeit massiv. Solche als „vorübergehend“ angekündigten Probleme drohen, zu einem Dauerzustand zu werden.

Es scheint eine starke Abhängigkeit von wenigen großen Anbietern zu geben. Wie sehen Sie die Marktsituation bei den Apothekenverwaltungssystemen?

Der Markt ist extrem konzentriert. Neben CGM gibt es beispielsweise noch Awinta, das zur Noventi-Gruppe gehört, als großen Player. Noventi hat in den letzten Jahren massenhaft kleinere, oft sehr gute Systeme aufgekauft, nur um deren Entwicklung dann zu vernachlässigen und die Kunden auf die eigenen Hauptprodukte umzustellen. CGM hat gleich ein schon zuvor vielgenutztes Produkt aufgekauft, das zudem bereits in die Abrechnungsprozesskette integriert war, da es einem standeseigenen Rechenzentrum gehörte. Auch hier hat sich die tagtägliche Nutzbarkeit, seit es unter Großkonzern-Eigentum steht, stark verschlissen. Das läuft ab wie bei Meta. Für uns Anwender gibt es kaum noch echte Auswahl, und die Qualität leidet unter dem mangelnden Wettbewerb.

Neben der Stabilität ist auch die Datenqualität ein Thema. Sie erwähnten Freitext-Rezepte von Zahnärzten und andere fehlerhafte Verordnungen. Wie viel Nacharbeit ist durch das E-Rezept für Sie entstanden?

Eine ganze Menge. Zahnärzte stellen fast nur Freitext-Rezepte aus, was wohl an der einfachen Software liegt, die sie nutzen. Aber auch andere Praxisverwaltungssysteme produzieren nicht immer saubere Daten. Wir bekommen haarsträubende Verordnungen, die wir manuell korrigieren und mit Erklärungstexten versehen müssen, um Retaxationen –nachträgliche Rechnungskürzung per Aufrechnung durch die Rechnungsprüfstellen der gesetzlichen Krankenversicherungen – zu vermeiden.

Ein Beispiel ist eine Cannabis-Verordnung, bei der das Arztsystem automatisch einen falschen Zusatz einfügt. Wir müssen dann einen juristisch formulierten Satz ergänzen, um zu erklären, warum die Verordnung so aussieht, wie sie aussieht. Das E-Rezept hat die Arbeit nicht einfacher gemacht, nur die Art der Nacharbeit hat sich von handschriftlich zu digital verlagert.

Das E-Rezept sollte ja auch Betrügereien verhindern, funktioniert das? Die BILD-Zeitung berichtete kürzlich über organisierten Betrug mit gefälschten Papierrezepten für teure Medikamente wie Ozempic. Der Vorwurf im Artikel lautet, viele Apotheken würden die Echtheit nicht sorgfältig genug prüfen. Stimmt das?

Ein gefälschtes E-Rezept in die Telematikinfrastruktur einzuschmuggeln ist durch die VPN-Struktur mit all den Zertifikaten zur Sicherstellung der Praxis- und Heilberufler-Identität für fast alle Fälscher zu schwer oder unmöglich zu bewerkstelligen. Insofern ist das E-Rezept tatsächlich ein hervorragender informationstechnischer Ansatz gegen Rezeptbetrug.

Die Echtheit eines Papierrezepts – und manche Artikel sind bisher nur auf Papier verordnungsfähig – zu überprüfen, ist bei einer gut gemachten Fälschung für Apotheken dagegen sehr schwer. Auch wenn die meisten verschreibungspflichtigen Arzneimittel E-Rezepte sind, können manche Medikamente noch nicht digital verschrieben werden. In solchen Fällen kann der Arzt das Rezept nur auf Papier ausstellen, damit die Arzneimittel rechtlich korrekt und sicher abgegeben werden können. Die Krankenkassen verweisen, nachdem die Fälscher bei anderen, ebenfalls sehr unauffälligen Merkmalen „nachgebessert“ haben, seit neuerdings darauf, dass die ersten beiden Ziffern des Institutionskennzeichens (IK) der Praxis nicht zum Bundesland oder Abrechnungsbezirk der Praxis-Adresse passen würden.

Keine Apotheke hat jedoch solche Detail-Daten im Alltag zur sofortigen Prüfung auf IK-Nummern-Übereinstimmung parat. Der Vorwurf, wir würden die Rezepte zu lasch auf Echtheit prüfen, ist weitab jeder Realität! Die Krankenkassen verweigern stets zunächst die Bezahlung bei Fälschungen. Die Beweislast, dass dennoch eine sorgfältige Prüfung stattfand, liegt faktisch bei der betroffenen Apotheke, bei einem Vorgang, der bis zu 11 Monate zurückliegen kann.

Die Arztpraxis, die von den Fälschern aufgedruckt wird, gibt es und auch deren Daten wurden „korrekt“ missbraucht. Oft wird das teure Arzneimittel vom Ganoven telefonisch vorbestellt und dann zu einem Zeitpunkt abgeholt, in der die vermeintlich verordnende Arztpraxis nicht mehr telefonisch erreichbar ist. Das macht die Nachfrage beim Arzt, auf die wir von den Krankenkassen als Sicherheitsmaßnahme verwiesen werden, unmöglich.

E-Rezepte sind derzeit für verschreibungspflichtige Arzneimittel möglich, die Erstattung erfolgt je nach Sachlage durch den Patienten oder die gesetzliche Krankenversicehrung. Die meisten verschreibungspflichtigen Arzneimittel werden per E-Rezept verordnet. Gelegentlich beliefern wir auch apothekenpflichtige Selbstzahler-Rezepte, die der Patient selbst bezahlt. Rezept-Kosten für Kinder mit nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln übernimmt die Krankenkasse, ganz wenige übernimmt sie auch für Erwachsene.

Folgende Rezepte gibt es nicht als elektronische Verordnung:

  • Betäubungsmittelrezepte (BtM-Fomular),
  • spezielle Krebsmedikamente mit dem alten Conterganwirkstoff und dessen nahe Verwandte ("T-Rezept", Spezialformular!)
  • Medizinprodukte (Blutdruckmessgeräte usw.)
  • Verbandmittel
  • Teststreifen und alle weiteren Randsortimente.

Immer mehr Apotheken behelfen sich damit, Vorbestellungen von Unbekannten nur noch durch die Übergabe des Rezepts in der Apotheke anzunehmen. Und das Medikament steht dann frühestens 24 Stunden später zur Abholung bereit. Das ermöglicht die Kontaktaufnahme mit der Arztpraxis zur Echtheitsprüfung. Und es schreckt die Betrüger ab, da die Fälschung ja aufgeflogen sein könnte und statt einer ergaunerten Arznei die Polizei wartet.

(mack)

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