Geisteswissenschaft soll Grenzen überschreiten, heißt es in fachpolitischen und universitären Gremien. Sie soll über nationale Etiketten und Narrative hinauswachsen, interdisziplinär aktiv, kulturell wirksam, demokratiefördernd und reflexionsstark sein. Alles dies war und ist die Musikwissenschaft an der Universität Greifwald. Doch wie es aussieht, wird ihr das wenig nützen: Der für Mittwoch angesetzte Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät hat die Beschlussvorlage für die Abwicklung des Faches auf der Tagesordnung. Im Hintergrund stehen weniger drastische Sparmaßnahmen als unter anderem die Idee, Trends wie Digital Humanities den Vorzug zu geben und dafür Etabliertes aufzugeben.
Dass die einzige Professur für Musikwissenschaft überhaupt zur Disposition stehen kann, liegt in einer Vakanz seit April, das Fach hat aktuell schlicht keine Stimme in der Fakultät. Dabei war es noch im Sommer 2024 als „Kleinod der Universität“ gutachterlich evaluiert worden. Sind kulturelle Gedächtnisse von Fakultäten wirklich so kurzzeitig?
Was auf dem Spiel steht
Sollte der Beschluss mehrheitlich gefasst werden, wäre Mecklenburg-Vorpommern das erste Bundesland, in dem man nicht mehr grundständig Musikwissenschaft studieren kann. Die traditionsreiche, schon 1456 gegründete Volluniversität Greifswald verlöre damit weit mehr als nur eine fachwissenschaftliche Facette im Studienangebot: In Gefahr gerät vielmehr ein seit Jahrzehnten erfolgreiches Hineinwirken des Faches in einen Kulturraum, der Musikvermittlung, Angebote kultureller Teilhabe und Reflexionen über die eigenen sowie angrenzenden Musikkulturen in Geschichte und Gegenwart nötig hat, ja nötiger noch als viele andere Orte Deutschlands. Der ländlich geprägte Nordosten versteht sich nicht selten als wirtschaftlich und politisch abgehängt, die Nähe zu Polen und damit zur Grenze des ehemaligen Ostblocks spielt eine nicht unerhebliche Rolle in der Eigenwahrnehmung, Peripherie zu sein, von „denen da oben“ nicht gehört zu werden. Dies spiegelt sich auch in drastischen Wahlergebnissen der AfD; sie wurde im Februar bei der Bundestagswahl stärkste Kraft in Mecklenburg-Vorpommern.
Sich ausgerechnet in so einer kultur- und gesellschaftspolitisch heiklen Situation eines Faches zu entledigen, das wie kaum ein anderes geeignet ist, Kultur in all ihrem Facettenreichtum zu würdigen und mitzugestalten, erscheint fahrlässig. Viele etablierte Kooperationen mit Theatern, Festivals, Museen, Kirchen, der kreativen Musikszene und den zahlreichen Musiksammlungen in Stadt und Region wären ersatzlos beendet. Was wären die überregional attraktiven Bach-Wochen ohne ihre nachhaltige intellektuelle Prägung durch Symposien, Lesungen und Podien? Wer kümmerte sich fortan um Erschließung, Digitalisierung und Präsentation des klingenden Kulturerbes, wie es im Rahmen des Ende 2024 erfolgreich abgeschlossenen und von der DFG geförderten Projektes zum Pommerschen Volksliedarchiv vorbildlich geschehen ist?
Bereits jetzt werden die weitgehend vergessenen Bestände auf der deutschen und polnischen Seite Pommerns von Künstlern, von Festivals und Kulturverbänden intensiv genutzt. Wer verträte künftig die zahlreichen Perspektiven der Musik im Interdisziplinären Forschungszentrum Ostseeraum (IFZO) der Universität Greifswald, wo aktuell ein musikwissenschaftliches Projekt zum „Opernkanon als kulturellem Erbe an Nationalopern und regionalen Kulturzentren des Ostseeraums“ wertvolle Grundlagenforschung leistet? Kann man einen Kulturraum überhaupt erforschen, ohne die Musik mitzudenken? Ist es nicht gerade die Musik, die zur heimatlichen Prägung einer Region nachhaltig beiträgt, die Zugehörigkeit schafft und Inklusion ermöglicht?
Lange akademische Tradition
Wenn in Greifswald von Musik die Rede ist, schwingt eine lange akademische Tradition mit. Bereits 1793 – zur gleichen Zeit wie in Göttingen und Halle – wurde hier eine feste Institution zur Pflege der Musik ins Leben gerufen: die Stelle eines Universitätsmusikdirektors. Die wissenschaftlichen Töne wurden um die Jahrhundertwende lauter: 1901 habilitierte sich Wilhelm Kleefeld, ein Schüler des berühmten Musikforschers Philipp Spitta, und brachte damit die Musikwissenschaft offiziell auf das akademische Parkett der Universität.
Doch es war Hans Engel, der 1925 den regelmäßigen Lehrbetrieb einführte und ein Jahr später mit dem Collegium Musicum auch die klingende Praxis belebte. 1928 erhielt die Disziplin mit dem musikwissenschaftlichen Seminar auch einen institutionellen Rahmen, der bald erste Studien zur Regionalgeschichte hervorbrachte. Gerade diese Hinwendung zur Regionalgeschichte öffnete Greifswald in den Neunzigerjahren neue Horizonte: Die Erforschung der Musikkulturen rund um die Ostsee – immer im Blick der vergleichenden, grenzüberschreitenden Perspektive – wurde zu einem Markenzeichen der Musikwissenschaft und verleiht ihr bis heute ihr Profil.
Ein neues Kapitel schlug die Universität 1996 auf. Während die Musikpädagogik nach Rostock wechselte, vereinten sich in Greifswald die Kräfte von Musikwissenschaft und Kirchenmusik zum Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft. Seither begegnen sich hier historische Forschung, musikalische Praxis und ein wacher Blick auf den kulturellen Reichtum des Ostseeraums – ein Zusammenspiel, das die Greifswalder Musikwissenschaft bis heute lebendig hält.
Vielleicht ist es ein Kennzeichen des winderprobten Küstenhumors, die eigene Ferne zu Musikmetropolen wie Leipzig oder Berlin auf die Schippe zu nehmen: „Pomerania non cantat“ – Pommern singt nicht, habe man schon in der Reformationszeit behauptet. Gänzlich unironisch wäre es nun, würde dieses musikhistorisch nachweislich falsche Bonmot durch die Abschaffung der Greifswalder Musikwissenschaft bizarre Realität. Damit wäre nicht nur die Philosophische Fakultät, sondern auch die Musikkultur des Nordostens dort, wo man nie sein wollte: an die Peripherie gerückt.