Der Prager Schriftsteller Artur Weigandt über Václav Havels Friedenspreisrede

vor 4 Stunden 1

Sehr geehrter Herr Havel,

Sie schreiben über die Doppeldeutigkeit von Worten. Sie schreiben auch über die Doppeldeutigkeit des Wortes „Frieden“. Ich habe über das, was Sie in Ihrer Friedenspreisrede geschrieben haben, nachgedacht. Ich habe über Worte mit doppelter Bedeutung und über das Wort „Krieg“ nachgedacht und festgestellt: Für mich kennt dieses Wort keine Doppeldeutigkeit. Der Krieg hat keine doppelte Bedeutung. Die Geschosse, die fliegen, die Kugeln, die töten, sind eindeutig. Auch das Sterben kennt keine zwei Bedeutungen. Im Tod gleichen alle Soldaten einander: begraben oder verwesend auf Schlachtfeldern, die wir am liebsten ignorieren wollen. Dieses Schicksal darf uns aber nicht gleichgültig sein.

Es ist ein bestimmter Krieg, von dem ich spreche. Sie, Herr Havel, haben ihn nicht mehr erlebt. Und doch ist es eine Fortsetzung von dem, was Sie kennen und erlebt haben. Ich spreche vom Krieg in der Ukraine. Die Politik der westlichen Staaten verliert sich in den Gedankenspielereien einer Dialektik, die uns zu Feiglingen macht. Wir lassen die Menschen in den Schützengräben, ihre Heimat und ihre Familien im Stich. Diese Menschen sterben. Andere werden zu Krüppeln. Manche, auch Kinder, können sich keine Prothesen leisten, sie verschulden sich und verfallen in Armut.

Im Westen leichtfertig

Und hier sind wir, im Westen, und genießen unser Leben und sprechen leichtfertig über Frieden und Krieg. Wir behaupten, die Wahrheit liege auf beiden Seiten, dass Worte eine doppelte Bedeutung hätten. Ich stimme Ihnen zu: Oft sind Worte mehrdeutig, sie tragen verschiedene Bedeutungen, sind vielschichtig und nicht binär, sondern fließend. Doch es gibt Begriffe, deren Bedeutung sich nicht verwischen lässt: Krieg hat keine doppelte Bedeutung. Geschosse und Kugeln sind eindeutig. Sterben ist eindeutig.

Artur WeigandtArtur WeigandtAnna Zhukovets

Ich weiß, Sie tragen keine Schuld an den Fehlern der gegenwärtigen Politik. Und ich weiß, dass Sie Ihre eigenen Kämpfe gegen die Sowjetunion geführt haben. Selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion haben Sie vor Russland und vor Putin mit seinem Expansionswahn gewarnt. Sie haben in einer Zeit, in der viele keine Haltung hatten, Haltung bewahrt. In meiner Zeit reden viele davon, Haltung zu zeigen, doch sie haben sie nicht wirklich.

Es ist leicht, über Haltung zu reden, doch wahrhaft Haltung zu zeigen, erfordert Mut und Opferbereitschaft. Die Heuchelei jener, die Frieden predigen, aber nicht bereit sind, dafür persönliche Opfer zu bringen, ist eine bittere Ironie unserer Zeit. Es reicht einfach nicht, nur von Frieden zu sprechen und die Dualität von Krieg und Frieden theoretisch zu diskutieren. Es bedarf konkreter Taten und der Anerkennung der Opfer. Krieg ist eine Realität, die wir nicht ignorieren können. Menschen, die darunter leiden, verdienen unsere Unterstützung.

Der 24. Februar 2022: ein Wendepunkt

Worte, so sagten Sie, seien der Anfang von allem. Doch ich wage zu widersprechen. Am Anfang waren es Zeichen, die subtile Vorboten dessen waren, was sich anbahnte. Verschleierte Wahrheiten, ein Flüstern hier, ein Blick dort – sie deuteten auf die drohende Rückkehr autoritärer und faschistischer Mächte hin. Dann kam der 24. Februar 2022, ein Wendepunkt, an dem die Zeichen der Vergangenheit mit der Gegenwart verschmolzen.

Ein Angriffskrieg begann, der nicht nur Europa veränderte, sondern auch jeden Einzelnen, der den Glauben an eine gerechte Welt nicht aufgeben will. Doch statt Gerechtigkeit walten zu lassen, fielen Bomben, Raketen explodierten, Menschen starben. Mariupol, Butscha, Irpin, Bachmut – ganze Städte wurden verwüstet. Im Namen einer alten russischen Welt. Seitdem herrscht Angst in Westeuropa – vor der Niederlage, vor Eska­lation, vor Waffen und vor der eigenen Untätigkeit.

Woher nehmen wir die Kraft, dem entgegenzutreten, Herr Havel?

Wenn ich die Geschichtsbücher aufschlage, lese ich viel über den Widerstand, den der Westen gegen den Warschauer Pakt leistete, und über den Widerstand der tapferen Menschen inner­halb des Warschauer Pakts, die sich gegen die Unterdrückung auflehnten. Doch heute scheint die Realität eine andere zu sein.

Die Zeichen, die uns umgeben, schreien uns förmlich an. Sie sind unmissverständlich in ihrer Klarheit, doch im Westen hat man die Zeichen längst ertränkt – in Gleichgültigkeit, in Selbstzufriedenheit. Lügen wuchern wie Unkraut, und die Wahrheit wird verhöhnt, ins Lächer­liche gezogen, als wäre sie ein Spielball in den Händen derer, die ihre Macht fest im Griff halten. In Talkshows prahlen Männer und Frauen unverhohlen mit ihren Lügen, und es ist, als ob unsere Gesellschaft nicht nur diese Unwahrheiten duldet, sondern sie bereitwillig willkommen heißt. Wie tief sind wir gesunken! Die Zeichen, sie waren immer da, doch wir haben weggesehen.

Parteien, ob von links oder rechts, haben unsere Werte längst verraten; sie reden vom Handeln, aber nur, um Wählerstimmen zu gewinnen. Politiker aller Couleur versprechen Unterstützung, reden von Entschlossenheit, von Waffenlieferungen, vielleicht sogar von Taurus-Raketen – und tun am Ende: nichts. Sie sprechen, aber handeln nicht. Ich bin frustriert. Und müde von all den leeren Worten. Sie treten unsere Forderungen mit Füßen, spucken auf unsere Überzeugungen und fordern uns nun auf, das Opfer – die Ukraine – für einen faulen Frieden zu verkaufen. Sie rufen uns zu, die Hilfe zu verweigern, den Blick abzuwenden. Und auch in Deutschland haben diese Parteien längst an Boden gewonnen. Die jüngsten Wahlen, besonders in Ostdeutschland – ausgerechnet dort, wo man doch wissen sollte, was es bedeutet, unter sowjetischer Herrschaft zu leben! Auch dort hat man die Zeichen ignoriert. Wie kann das sein? Wie konnten wir das zulassen?

Wenn der moralische Kompass ruckelt

Herr Havel, ich schreibe Ihnen in der Illusion, Sie könnten mir antworten. Vielleicht ist es aber auch nur ein verzweifelter Versuch, eine Antwort in meinem eigenen Inneren zu finden. Was kann ich tun? Was sollen wir tun in einer Zeit, in der der moralische Kompass ruckelt, in der die Fundamente unserer Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit gebaut sind, bröckeln und auseinanderzufallen drohen? Die öffentliche Debatte ist ein Sumpf aus Manipulation und Desinformation, und die einst unantastbaren Werte von Wahrheit und Integrität werden wie Spielkarten im Wind zerstreut. Wie lange können wir das noch ertragen, bevor alles, was wir für richtig hielten, unwiderruflich verloren ist?

 Der Schauspieler Maximilian Schell verliest in der Paulskirche die Dankesrede von Václav Havel. Dem war von den Behörden der Tschechoslowakei die Reise nach Frankfurt untersagt worden.15. Oktober 1989: Der Schauspieler Maximilian Schell verliest in der Paulskirche die Dankesrede von Václav Havel. Dem war von den Behörden der Tschechoslowakei die Reise nach Frankfurt untersagt worden.Picture Alliance

In einer Welt, in der die Macht der Worte und die Bedeutung der Wahrheit so zentral sind, wie Sie es oft betont haben, erscheint diese Entwicklung besonders besorgniserregend. Es erinnert mich an Ihre Worte über die Doppeldeutigkeit der Sprache und die Notwendigkeit, die Wahrheit inmitten von Täuschung und Verdrehung zu verteidigen.

Selbst wenn wir glauben, dass die Wahrheit manipuliert ist, so lassen Sie mich hier erklären: Die Wahrheit zeigt sich auf dem Schlachtfeld, auf den Feldern, wo ukrainische Soldaten mit schwacher westlicher Hilfe ihre Unabhängigkeit gegen Russland verteidigen. Ich war dort, ich habe mit diesen Männern gesprochen, die kämpfen. Politik kann lügen, aber die Lüge kann nicht bestehen, wenn der „Ruski Mir“ mit seinen Soldaten die Grenzen überschreitet und die Realität des Konflikts unerbittlich ans Licht bringt. Es sind nicht nur die Bomben und Raketen, die unsere westliche Welt erschüttern, sondern die moralische Zerrissenheit, die sich durch unsere Gesellschaften frisst.

Erinnerung an eine standhafte Stimme

In dieser Unsicherheit frage ich mich, wo die Entschlossenheit ist, die uns durch diese Verwirrung leiten kann. Die Er­innerung an Ihre standhafte Stimme, die gegen Totalitarismus und Unterdrückung aufbegehrte, drängt sich mir auf. Ihre Worte über die Kraft der Wahrheit und die Bedeutung der Menschlichkeit hallen wider in einer Zeit, die von moralischer Ambivalenz gezeichnet ist.

Doch wo sind unsere modernen Vorbilder?

In der heutigen Medienlandschaft werden die öffentlichen Debatten von Halbwahrheiten und Skandalen dominiert, während die grundlegenden Werte von Menschlichkeit und Verantwortung zunehmend untergehen.

Es ist eine Zeit, in der wir uns daran erinnern müssen, dass Geschichte keine geradlinige Erzählung von Fortschritt und Aufklärung ist, sondern oft ein zyklisches Ringen um Deutungshoheit. Wie Sie einst gegen die Geister der Vergangenheit gekämpft haben, stehen wir heute neuen Herausforderungen gegenüber – und auch den Geistern der Vergangenheit. Akteure wie der Kremlherrscher ­Putin versuchen, die Gespenster der Vergangenheit mit den Problemen der Gegenwart zu vermischen, um uns zu überwältigen. Er pflanzt radikalen, imperialistischen Nationalismus in den Köpfen der Menschen aus und vermittelt die Idee, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Das russische Regime überschwemmt die Öffentlichkeit mit einer Flut von Desinformationen, um die Suche nach Wahrheit zu erschweren.

Nebel aus Propaganda und Selbsttäuschung

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns wieder auf die fundamentalen Werte besinnen, die uns als Gesellschaft zusammenhalten sollten. Die Wahrheit mag oft verborgen sein, aber sie bleibt unverändert die Richtschnur, an der wir uns orientieren sollten. Es sind nicht nur die Bomben und Raketen, die unsere Welt erschüttern, sondern es ist auch die moralische Zerrissenheit, die sich durch unsere Gesellschaften frisst. Die klaren Konturen von Gut und Böse verschwimmen in einem Nebel aus Propaganda und Selbsttäuschung. Wo einst das Streben nach Wahrheit war, breitet sich nun eine Atmosphäre der Verwirrung aus.

Herr Havel, Ich habe mir ein Z tätowieren lassen, vor dem Krieg, vor der Pandemie. Es stand für die Zeit, an die ich mich erinnern wollte. An die Zeit, die wir schätzen sollten. Die Zeit ist nun vorbei. Das Z wurde zum Symbol des russischen Faschismus. Und aus meinem Z wurde eine Sanduhr auf meinem Finger. Sie steht für meine Überzeugung, dass die Zeit irgendwann für jeden abläuft. Sie lief für Napoleon, Hitler und Stalin ab. Für Papandreou, Pinochet und Franco. Und bald auch für Putin – oder für uns. Das werden wir in Zukunft erfahren.

Diese Sanduhr auf meinem Finger erinnert mich täglich daran, wie kostbar Zeit ist und wie schnell sie verrinnen kann. Sie steht für die Dringlichkeit, mit der wir handeln müssen, um die Werte zu verteidigen, die Sie und so viele andere vor uns hochgehalten haben. Denn während wir uns in einer Zeit der moralischen Verwirrung und des geopolitischen Umbruchs befinden, ist es von entscheidender Bedeutung, es nicht zuzulassen, dass der „Ruski Mir“ siegt. Die Worte, die Sie über die Macht der Wahrheit sprachen, hallen in diesen herausfordernden Zeiten lauter denn je wider. In einer Welt, in der Desinformation und Manipulation weit verbreitet sind, müssen wir die Wahrheit als unseren Kompass nutzen, um durch den Nebel der Lügen hindurchzustechen.

Doch vor dem Wort war immer das Zeichen – ich sagte es schon –, und Zeichen bleiben subtile Vorboten dessen, was sich anbahnt. Ich sehe die Sanduhr auf meinem Finger als ein solches Zeichen. Sie symbolisiert nicht nur den Ablauf der Zeit, sondern auch die Notwendigkeit, die Herausforderungen unserer Zeit zu erkennen und zu adressieren, bevor es zu spät ist. Ich frage mich oft, wie es Ihnen ergangen wäre, hätten Sie diese turbulenten Zeiten miterlebt. Diese Zeit, in der die Freiheit der Rede bedroht ist und autoritäre Kräfte wieder gewinnen. Diese Zeit, in der wir keine Freiheit erkämpfen, sondern diese bewahren und verteidigen müssen.

In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Momente, in denen die Autokratie zu triumphieren schien, aber auch Zeiten des Widerstands und des Triumphs der Demokratie und Menschenwürde. Der Kampf gegen das Unrecht hat nicht geendet; er beginnt immer wieder von Neuem. Jetzt liegt es an meiner Generation, sich diesem Kampf zu stellen. Wir müssen die Welt verändern, bevor es zu spät ist.

Artur Weigandt wurde 1994 in Kasachstan geboren und lebt in Prag. 2023 erschien sein Roman „Die Verräter“ (Hanser).

Václav Havels 1989 in haftbedingter Abwesenheit des Preisträgers gehaltene Rede ist einzusehen unter https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1980-1989/vaclav-havel#1638.

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