Was uns unverhofft beglückt und nicht zu erklären ist, weil wir es aus dem, was wir wissen, nur schwer oder gar nicht ableiten können, das nennen wir Wunder. In diesem doppelten Sinne, der jähen Beglückung wie der schweren Erklärbarkeit, ist das, was sich gerade am Theater Ulm ereignet, ein Wunder. Der Intendant Kay Metzger, der mit Ende dieser Spielzeit in den Ruhestand gehen wird, hat die Oper „Le petit pauvre d’Assise“ von Charles Tournemire 86 Jahre nach deren Entstehung edieren lassen und als Regisseur gemeinsam mit seinem Generalmusikdirektor Felix Bender zur Uraufführung gebracht.
Es ist bereits die zweite Tournemire-Uraufführung, nachdem in Ulm vor zweieinhalb Jahren „La légende de Tristan“ 96 Jahre nach deren Vollendung erstmals auf die Bühne gelangt war. Metzger hat Ulm, auch jetzt wieder mit einem umfangreichen Begleitprogramm aus Vorträgen und Konzerten, zu einer echten Tournemire-Stadt gemacht.
Hörbar wird dabei ein Komponist, der sich auf der gleichen Höhenlage der französischen Musik im 20. Jahrhundert bewegte wie Maurice Ravel, Gabriel Fauré oder Olivier Messiaen. Bislang war Tournemire, am 22. Januar 1870 in Bordeaux geboren und Anfang November 1939 in Arcachon unter ungeklärten Umständen ertrunken, nur ein esoterischer Titan unter Organisten, die als versponnen galten, wenn sie ihn einen der Allergrößten nannten. Aber Messiaen – diesen Hinweis verdanken wir Wolfgang Rihm, der die Tournemire-Uraufführung 2022 wehmütig vom Krankenbett aus verfolgte – hatte in seinen Analysekursen immer wieder auf seinen Lehrer hingewiesen und behauptet, dass dessen Zeit noch kommen werde.

Vieles, was die Moderne Messiaens Originalitätssaldo zurechnete, findet sich bereits bei Tournemire: eine Harmonik, die sich aus der Kadenzbindung löst und trotzdem ein tonales Gefälle behält; die Verwendung freier Tonskalen, auch unter Rückgriff auf die traditionelle Musik Indiens; die Beschäftigung mit Vogelstimmen und die Begeisterung für den Heiligen Franz von Assisi. Denn 44 Jahre, bevor Messiaen sein monumentales Epos „Saint François d’Assise“ auf die Opernbühne brachte, hatte bereits Tournemire 1939 seine fünf lyrischen Episoden in sieben Bildern op. 73 vollendet.
So verwandt beide Komponisten ihren Inspirationsquellen nach sind, so unterschiedlich klingen die Ergebnisse. Ist der „Saint François“ von Messiaen ein Koloss, der durch Dauer und Kraftanstrengung der Solisten wie des ganzen Apparates überwältigen will, so tritt uns Tournemires „kleiner Armer aus Assisi“ mit Musik rigoroser Verinnerlichung, nicht Überwältigung entgegen: franziskanisch in der Ästhetik durch und durch, karg, konzentriert, zart, aber von glühender Radikalität. Dass ein Werk von solcher Eindringlichkeit mehr als vier Generationen verschütt bleiben konnte, ist schwer zu erklären, vielleicht durch den baldigen Tod des Autors, den Rezeptionsabbruch des Zweiten Weltkriegs und den Lärm der Nachkriegsavantgarden, die jeden Blick zurück ästhetisch kriminalisierten.

Tournemire erzählt, mit dem Text seines Schwagers Joséphin Péladan, des Begründers der französischen Rosenkreuzer, die Geschichte des Franz von Assisi in den Stationen der Lossagung von der humanistischen Bildungskultur säkularer Eliten und vom Erbe seines reichen Vaters, der Berufung Claras, der Zuwendung zu den Armen, des Empfangs der Stigmata und des Todes.
Metzger macht im ersten Bild seiner Inszenierung Zugeständnisse an die Aktualisierungskonventionen unserer Gegenwart, wenn er die neun Musen und drei Grazien als Flittchen eines Amüsieretablissements, von Heiko Mönnich in magentafarbene Trikotagen gekleidet, vorführt. Das wirkt grell heutig, entschärft aber Tournemires Fundamentalismus, der hier den Gegensatz von Humanismus und Christentum, von Parnass und Golgatha aufreißt. Denn diese Intention Tournemires stößt uns ein weiteres Mal vor den Kopf: Er will eigentlich kein Kunstwerk schaffen als Gegenstand distanzierter Betrachtung, sondern sich über Franziskus in die Nachfolge Christi begeben. Seine ästhetische Radikalität – die von der Kargheit der religiös-symbolistischen Liederzyklen „La chanson d’Ève“ und „Le jardin clos“ bei Gabriel Fauré ihren Ausgang zu nehmen scheint – ist nicht durch den Innovationswettbewerb der Moderne motiviert. Tournemire wird „avantgardistisch“ aus der Gestaltung seiner Fremdheitserfahrung als gläubiger Christ, der oft genug auf die einsamen Inseln Ouessant und Yeu oder in die Abtei Solesmes floh.

Doch Metzger nimmt den radikalen Lebensentwurf des Franziskus ernst. Als Aktivisten die Bühne zustellen mit den Utensilien politischer Indienstnahme – Fridays for Future, LGBTQ-Fahnen – schießt Franziskus den Krempel wütend von der Bühne. Zugleich erzählt Metzger die Beziehung zwischen Franz und Clara als latent erotische, wenn die Entkleidung der künftigen Nonne durch Franziskus wie die Vorbereitung auf eine Hochzeitsnacht wirkt. Der spätere Empfang der Stigmata bei ihm kann daher auch gelesen werden als Folge sexueller Selbstunterdrückung. Diese Ambivalenzen machen die Inszenierung besonders stark.
Der Tenor Samuel Levine singt den Heiligen Franziskus überwältigend schön mit ekstatischer Innigkeit. Und Maryna Zubko als Clara wirkt weniger dramatisch als generös lyrisch. Dae-Hee Shin als Claras Vater und Cornelius Burger als Franziskus’ Vater formieren mit kantiger Bassgewalt den Gegensatz dazu. Markus Francke durchleuchtet als Bernard de Quintavalle die Schar der großen Anhängerschaft im Chor, den Nikolaus Henseler vorbildlich einstudiert hat.
Die syllabischen, leichtfüßigen Dialoge werden von Bender und dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm gleichsam getupft grundiert. Aber in den Verwandlungsmusiken kann sich die hymnische Gewalt Tournemires entfalten, die trotzdem vor sensuellem Kitsch und spiritueller Pornographie einer parfümierten Boudoir-Symphonik zurückschreckt. Mit zarten, aller funktionsharmonischen Erklärbarkeit entrückten Streicherakkorden nach dem Tod des Heiligen, die gleichermaßen kühn wie taktvoll nur andeuten, was wir nicht wissen können, endet die Oper so berührend wie verstörend.