Cassandra Wilson 70: Jazz ist kein Genre, sondern eine Disziplin

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Mitte der Achtzigerjahre als Jazzsängerin Karriere zu machen, war nicht einfach. Die Zeit der Diven schien vorbei, der Jazz hatte weithin mit dem Rock fusioniert oder war in den Kommerz-Fahrstuhl zum Schafott gestiegen – und da Erfolg suchen mit einer Neueinspielung von Standards?

Cassandra Wilson, geboren im tiefen Süden von Jackson, Mississippi, hat genau das versucht, nachdem sie bereits einige Jahre lang viel avantgardistischere Musik und sich als Sängerin in der Szene einen Namen gemacht hatte – aber tatsächlich mehr Anklang fand sie mit „Blue Skies“ (1988), auf dem neben diesem Klassiker von Irving Berlin auch solche wie „I’m Old Fashioned“ oder „My One and Only Love“ waren. Eingängig war da schon ihre kehlige Altstimme, jedoch der Gesamteindruck tatsächlich noch zu altmodisch, um ganz besonders zu wirken.

Blaulicht bis zum Morgen

Das änderte sich, als sie beim traditionsreichen Jazzlabel Blue Note unter Vertrag kam, sich allerdings mit „Blue Light Til Dawn“ (1993) dem Blues öffnete und mit Adaptionen wie der von Van Morrisons „Tupelo Honey“ überraschte, das bei ihr wie nachgeträumt wirkt, sogar noch langsamer, mit einem luftigen Folk-Arrangement: eine beseelte Ballade zwischen allen Genres.

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Noch charakteristischer wurde dann das Album „New Moon Daughter“ (1995), stilistisch und auch inhaltlich: Es war eine Positionierung nicht nur in der Geschichte der Musik, sondern auch jener der Schwarzen in Amerika. Das zeigt sich schon am Eröffnungsstück „Strange Fruit“. Nach Billie Holiday dieses vielleicht bitterste Lied Amerikas neu zu singen, in dem Gelynchte wie sonderbares Obst an Bäumen hängen, ist in mancher Hinsicht gewagt. Wilson gewann ihm aber völlig neue Facetten ab; gebündelt in ihrer frei zwischen Fetzen von Steel-Gitarre, Kontrabass und Trompete schwebenden, ahnungsvollen Stimme gewann das Stück auch neue Unheimlichkeit.

Zwischen Nil und Mississippi

Die fünf Eigenkompositionen Wilsons auf dem Album spielen ebenfalls mit Historischem, etwa „Memphis“ mit seinem zwischen Nil und Mississippi pendelnden Text und seiner zwischen Blues und Reggae schwankenden Musik, oder „A Little Warm Death“ mit perkussivem Gitarrenspiel und folkiger Geige. Klingt in der Beschreibung langsam nach wahllos zitierender Weltmusik? Nein, es verdichtet sich eben trotzdem um die dämmrige, rauchige Simme Wilsons zu etwas wirklich Eigenem. Und das sogar auch bei zwei tollen Coverversionen, „Harvest Moon“ von Neil Young und „Love is Blindness“ von U2.

In einem Interview hat Wilson eine interessante Definition von Jazz gegeben: Dieser sei kein Genre, sondern eine Disziplin. Was damit gemeint ist, wird vielleicht nicht sofort klar, sondern erst mit Kontext: Sie sagte das vor einem Gedenk-Konzert für die große Vorgängerin Billie Holiday. Wilson fügte aber noch hinzu, Jazz sei „a way of life“; es gehe nicht darum, ein musikalisches Ideal zu erfüllen oder gar zu imitieren (was gerade bei der Gesangsart Billie Holidays sehr nahe liegt), sondern: „Just be yourself.“

Das ist leicht gesagt, werden manche jetzt denken – ist dann also jeder Mensch, der sich nicht verstellt, schon ein Jazzmusiker? Ganz so einfach ist es leider für die meisten nicht, aber das muss Cassandra Wilson nicht kümmern, der es auch auf weiteren Werken wie der Miles-Davis-Hommage „Traveling Miles“ (1999) oder dem Album „Another Country“ (2012) spielend gelingt und die am heutigen Donnerstag siebzig Jahre alt wird.

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