Dass diese Reise eine besondere ist, zeigt sich am Dienstagabend um kurz vor halb acht. Draußen ertönt auf einmal Raketenalarm. Und drinnen, im King David Hotel, beginnen Durchsagen. Man möge sich doch in den Schutzraum begeben. Im ersten Untergeschoss findet man dann auch Wegweiser. Rechts geht es zum Swimming Pool, links „TO SAFETY ZONE“ – so steht es auf dem Schild. In dem Raum sitzen bereits Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, seine Frau und viele andere. Willkommen in Jerusalem.
Für die Mitarbeiter im Hotel sind derlei Warnungen Alltag, angeblich gibt es zurzeit beinahe täglich eine. Auch der Bundespräsident nimmt es ziemlich gelassen. Nach zehn Minuten ist alles vorbei. Man habe eine in Jemen abgefeuerte Rakete erfolgreich abfangen können, teilt die israelische Armee später mit. Aber die Raketenwarnung zeigt, dass es bei dieser Reise doch um mehr geht als nur um 60 Jahre deutsch-israelische Beziehungen.
Eigentlich ist Steinmeier wegen dieses Jubiläums nach Israel gekommen. „Für uns Deutsche war das ein Geschenk, das wir nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und des Zivilisationsbruchs der Shoah nicht erwarten durften“, findet der Bundespräsident. Er ist deshalb am Dienstagmorgen nach Israel geflogen – nicht für eine Stippvisite, sondern für volle zwei Tage. Außerdem sieht das Programm vor, dass Steinmeier viele seiner Termine gemeinsam mit Isaac Herzog, dem israelischen Präsidenten, absolviert.
Herzog und Steinmeier kennen sich schon lange, sie sind befreundet. Die Reise soll ein Zeichen der Nähe sein, nicht nur zwischen den beiden Präsidenten, sondern auch zwischen den beiden Staaten. Doch die Reise wird vom Krieg im Gazastreifen überschattet. Das zeigt nicht nur die Raketenwarnung.
Netanjahu kündigte neue Offensive in Gaza an
Am Dienstagnachmittag, Steinmeier besucht gerade die israelische Nationalbibliothek, macht eine Nachricht die Runde. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe für die kommenden Tage eine neue Offensive zur Zerschlagung der islamistischen Hamas im Gazastreifen angekündigt, meldet die Deutsche Presse-Agentur. Bei einem Treffen mit israelischen Reservisten habe Netanjahu mitgeteilt: „In den kommenden Tagen werden wir mit voller Kraft hineingehen, um die Kampagne zu vollenden.“ Man werde in dem Krieg „bis zum Ende“ gehen.
Statt Entspannung also Eskalation.
In der Nationalbibliothek haben Steinmeier und Herzog auch einen Raum mit einer riesigen Wand voller Fotos besichtigt. Es sind Fotos der Opfer des Massakers der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023. Nie seit dem Holocaust wurden an einem Tag mehr Juden getötet als an diesem Tag. Das ist die eine Seite. Die andere ist die Unerbittlichkeit des Krieges, den Netanjahu im Gazastreifen gegen die Hamas führt. Eine Unerbittlichkeit, die in der Zivilbevölkerung gewaltiges Leid verursacht. Der Internationale Strafgerichtshof hat gegen Netanjahu bereits einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen.

Direkt nach dem Besuch der Nationalbibliothek, so will es der Zufall, steht auf Steinmeiers Reiseprogramm ein Treffen mit ebendiesem Netanjahu. Wegen der Ankündigung des israelischen Ministerpräsidenten, den Gaza-Krieg noch einmal zu verschärfen, bekommt das Treffen zusätzliche Bedeutung.
Bei einem kurzen Presseauftritt im Untergeschoss der Nationalbibliothek wird Steinmeier gefragt, was er von der Forderung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International halte, auf das Treffen mit Netanjahu zu verzichten. „Ich finde, dass die Forderung sehr einfach ist“, antwortet der Bundespräsident. „Es wäre auch das Einfachste für Politiker, schwierigen Gesprächen aus dem Weg zu gehen.“ Das sei nie seine Haltung gewesen. Und das gelte ganz besonders im Verhältnis zu Israel.
Zur Ankündigung Netanjahus, den Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen ausweiten zu wollen, sagt Steinmeier lediglich: „Ich hoffe sehr, dass wir Erklärungen bekommen, auch Erklärungen dafür, was mittel- und langfristig beabsichtigt ist.“ Was Netanjahu und der Bundespräsident dann besprochen haben, kann man sie nicht direkt fragen. Es gibt anschließend keine Pressekonferenz.
Steinmeiers Sprecherin teilt aber mit, der Bundespräsident habe die bleibende Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels, gerade auch nach dem Angriff der Hamas vom Oktober 2023, unterstrichen. Außerdem hätten sich Steinmeier und Netanjahu „über die Spannungslage in der Region“ ausgetauscht. Dabei habe Steinmeier „die dringende Notwendigkeit“ betont, „politische Perspektiven zur Beendigung des Krieges aufzuzeigen – insbesondere im Dialog mit den arabischen Staaten“. Und er habe „die Dringlichkeit“ betont, den Zugang der Bevölkerung in Gaza zu humanitären Hilfen wieder zu gewährleisten.
Netanjahu findet jedoch, dass die Hamas die Hilfslieferungen für ihre Zwecke nutzt. Und er hat kein Vertrauen in die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge. Es dürfte bei dem Gespräch deshalb auch darum gegangen sein, wie man alternative Wege für Hilfslieferungen schaffen kann.
Nach dem Treffen mit Netanjahu fuhr Steinmeier dann ins King David Hotel, wo ihn die Raketenwarnung ereilte. Mit einer kleinen Verspätung ging es später weiter zu einem Abendessen, gegeben von Präsident Herzog.
An diesem Mittwoch wollen die beiden Präsidenten den Kibbuz Beʾeri nahe der Grenze zum Gazastreifen besuchen. Die Hamas hatte ihn bei ihrem Angriff auf Israel im Oktober 2023 fast völlig zerstört. Und sie hatte dort mehr als 130 Bewohner getötet. Steinmeier und Herzog hatten den Kibbuz bereits wenige Wochen nach dem Massaker gemeinsam besucht. Steinmeier hatte damals finanzielle Hilfe aus Deutschland für den Wiederaufbau zugesagt. Jetzt fahren die beiden Präsidenten erneut in den Kibbuz. Es soll auch ein Zeichen des Zusammenhalts und der Freundschaft sein – nach 60 Jahren diplomatischer Beziehungen.