Bernhard Schlink im Gespräch: „Schuld gehört zum Menschsein dazu“

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Was ist Schuld? Das Wort allein birgt einen Abgrund. Am Montagabend wagten sich Michel Friedman und Bernhard Schlink an dessen Rand. Im Rahmen der Reihe „Denken ohne Geländer“ im Jüdischen Museum Frankfurt sprachen der Publizist und der Jurist und Autor über eine Frage, die die deutsche Geschichte und Gegenwart prägt. Dass Friedman für dieses Thema ausgerechnet Schlink eingeladen hatte, war kein Zufall.

Für ihn als Angehörigen der Nachkriegsgeneration sei die Auseinandersetzung mit Schuld zu einem „Lebensthema“ geworden, sagte Schlink. In seinen Romanen, darunter seinem viel diskutierten Werk „Der Vorleser“ von 1995, bis heute einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane der Gegenwartsliteratur, kreist der Autor, der 1944 geboren wurde, immer wieder um die Themen Vergangenheit, Verstrickung und Schuld.

„Das Gefühl der Schuld war in meiner Generation ganz verbreitet. Lange habe ich mich gefragt: ,Warum haben wir das, woher kommt das? Wir haben doch nichts gemacht.‘, bis ich begriffen habe, dass auch die Nähe zur Elterngeneration, in deren Schuld verstrickt“, so Schlink. Den Ursprung dieses Schuldverständnisses sieht der promovierte Jurist in historischen Stammesrechten, die bis heute nachwirkten: Hat ein Mitglied eines Stammes jemanden aus einem anderen Stamm getötet, so habe die Gruppe die Möglichkeit gehabt, es entweder auszustoßen oder es „in der Solidarität zu behalten“, doch dann sei der ganze Stamm verantwortlich geworden, so Schlink.

„Die Liebe zu den Eltern lässt sich nicht auflösen.“

So sei es noch heute: „Schuldige, Verbrecher in der Solidarität, in der Gemeinschaft, in der Liebe zu halten, verstrickt in deren Schuld.“ Das sei auch der Nachkriegsgeneration passiert. Auch wenn sie begonnen habe, sich mit den Verbrechen der Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen, habe sie doch, bis auf wenige Ausnahmen, nicht mit ihnen gebrochen. Ihm gehe es nicht darum, die Nachkriegskinder zu verurteilen. Manchmal sei es kaum vermeidbar, Schuld auf sich zu laden: „Die Liebe zu den Eltern lässt sich nicht auflösen.“ Schuld – also „das, was uns bleibt, wenn wir vor unserer Verantwortung versagt haben“, wie Schlink es formuliert – sei etwas zutiefst Menschliches: „Dass Menschen vor Verantwortung versagen, gehört zum Menschsein dazu.“

Platz genommen hatten Friedman und Schlink an diesem Abend im Lichthof des Museums in einer eigens von Tobias Rehberger für die Gesprächsreihe entworfenen Sitzskulptur: Friedman in einem Sessel mit dem Antlitz von Sigmund Freud, Schlink auf einem Sofa, dessen Form an ein angeschnittenes Gehirn erinnert – der Gastgeber als Psychoanalytiker, der Gast als Patient. Schon in der ersten Hälfte des Gesprächs brach Friedman diese Konstellation auf und wechselte unter Lachern aus dem Saal zu seinem Gast auf die Couch, nachdem dieser auf Friedmans Ausruf, „Sie sind ja der Klügere von uns beiden“, erwidert hatte: „Wer der Klügere von uns beiden ist, Herr Friedman, schauen Sie sich Ihren Sitz an und schauen Sie sich meinen Sitz an – das sagt doch schon alles.“

Seite an Seite auf dem blauen Polster versuchten die beiden die Frage zu ergründen, wie die Verstrickungen bis heute nachwirken. Ist die mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Grund für den Aufstieg der Rechten in Deutschland, will Friedman von Schlink wissen, „haben die nachfolgenden Generationen dadurch neue Schuld auf sich geladen?“

Hätten den Worten nicht Taten folgen müssen?

Schlink widerspricht, er vermutet andere Gründe hinter dem Erstarken des autoritären Populismus im ganzen Westen, wie er sagt. Seit Ende der Sechzigerjahre habe es vielmehr eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Taten der Eltern und Großeltern gegeben; die Nachkriegsgeneration habe zumindest versucht, sich durch den Konflikt mit den Eltern aus der Verstrickung zu lösen. „Wir wollten doch wissen, was unsere Professoren während des Nationalsozialismus getan hatten.“

Für Friedman hingegen überwiegen in dem Gespräch die Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Es gehe doch darum, was die Mehrheit der Gesellschaft und vor allem die Politik getan habe, sagte Friedman, der auf der politischen, kollektiven Verantwortung beharrte. Mit Blick auf die rechte Gewalt der Achtziger- und Neunzigerjahre, die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, die Brandanschläge in Mölln und in Solingen und die Morde des NSU stelle sich die Frage, ob die Politik nicht versagt habe, ob den Worten – Stichwort „Wehret den Anfängen“ – nicht auch Taten hätten folgen müssen.

„Haben sich die Jüngeren nicht schuldig gemacht, da sie dem Anspruch, den sie vor sich hergetragen haben, nicht gerecht geworden sind?“, wollte Friedman wissen. So habe beispielsweise das Bundesinnenministerium erst 2022 erklärt, der Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung für die Demokratie. „Warum ist das nicht schon viel früher passiert?“

Doch Bernhard Schlink schreckt davor zurück, eine ganze Generation verantwortlich zu machen. Er wird nicht müde, eher den Fortschritt zu betonen, den es in den vergangenen 80 Jahren in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und in der jüngeren Vergangenheit beim Thema Antidiskriminierung gegeben habe, nicht zuletzt dank dem Engagement aus der Gesellschaft heraus – so sehr, dass sich Michel Friedman dazu animiert fühlte, das Gespräch mit einer Frage zu beenden, deren Antwort das Publikum bereits erahnen konnte: „Sind Sie eigentlich Optimist?“ – „Ach, Herr Friedman, ich höre nicht auf zu hoffen, dass ich Optimist bin.“

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