Belgien: Sanierung auf die harte Tour

vor 7 Stunden 1

In westlichen Demokratien hat es sich eingebürgert, neuen Regierungen eine Schonfrist von 100 Tagen zu gewähren. Der Brauch geht zurück auf den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der die Öffentlichkeit im März 1933 bat, 100 Tage abzuwarten, bis die ersten Wirkungen seiner Wirtschaftsreformen im Rahmen des „New Deal“ zu sehen seien. In Belgien wurde das Roosevelt-Prinzip umgekehrt: Die Gewerkschaften organisierten schon Streiks, 100 Tage bevor die neue Regierung unter Ministerpräsident Bart De Wever im Februar 2025 ihr Amt antrat. Und sie haben damit bis zum heutigen Tag nicht damit aufgehört.

Die beispiellose Welle von Streiks richtet sich gegen De Wevers Wirtschafts- und Sozialreformen. Arbeitslose sollen nach zwei Jahren nur noch das absolute Minimum an staatlicher Hilfe erhalten.  Renten und Pensionen sollen gekürzt, das Eintrittsalter erhöht werden. Modelle zur Frühverrentung will man abschaffen. Generell sollen die Ausgaben im öffentlichen Dienst sinken. Der konservative Regierungschef und sein Fünf-Parteien-Bündnis wollen den hoch verschuldeten Staat auf die harte Tour sanieren – und zugleich die Verteidigungsausgaben schnell erhöhen.

Der Süden ist für die Streiks, der Norden dagegen

Die Gewerkschaften versuchen, die Regierung systematisch unter Druck zu setzen. Am Montag vergangener Woche riefen sie zum Generalstreik auf, am 29. April soll es einen weiteren geben. Die vielen kleinen Bahngewerkschaften streikten zunächst wild durcheinander und stürzten damit die Bahnkunden in Verzweiflung. Mittlerweile haben auch sie sich auf den Dienstag als Protest-Tag geeinigt. An diesem Dienstag geht es also weiter: Lokführer und Bahnpersonal protestieren dagegen, dass sie künftig nicht mehr mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen dürfen.

Bei der Streikwelle steht die Zukunft des tief gespaltenen belgischen Staates auf dem Spiel. Der Protest gegen die Regierung findet große Zustimmung im Süden des Landes, in der französischsprachigen Region Wallonien. Dort leben viele Menschen von staatlicher Hilfe. In Flandern, dem reichen Norden des Landes, werden die Streiks dagegen mit großer Mehrheit abgelehnt.

Der Konflikt bündelt sich in der Person des Ministerpräsidenten. Bart De Wever, vormaliger Bürgermeister von Antwerpen, ist Chef der flämischen Nationalistenpartei N-VA. Die tritt in ihrem Programm immer noch für die Unabhängigkeit der Region Flandern ein, auch wenn der Punkt mittlerweile eher zur Parteifolklore gehört. Jahrelang polemisierte De Wever dagegen, dass die Flamen im Rahmen des belgischen Finanzausgleichs die vermeintlich „arbeitsscheuen“ Wallonen querfinanzieren. Die französischsprachigen Sozialisten unterstellen ihm nun unverhohlen, er wolle mit seinem drastischen Sparprogramm den belgischen Staat sprengen und so die flämische Autonomie erreichen.

Die EU hat ein Defizitverfahren gegen Belgien eingeleitet

De Wever dagegen beharrt darauf, sein Programm sei der einzige Weg, den belgischen Staat zu retten. Belgien habe die „höchste Staatsverschuldung der westlichen Welt“, sagt er immer wieder. Was zweifellos übertrieben ist. Die EU ermittelt aktuell einen Wert der Verschuldung von knapp 105 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, damit liegt Belgien noch hinter Griechenland, Italien und Frankreich. Die jährliche Neuverschuldung beträgt knapp fünf Prozent. Aber die Prognosen sind verheerend, weshalb die EU-Kommission im vergangenen Sommer ein Defizitverfahren gegen Belgien einleitete.

Das Haushaltsminus hat nichts mehr mit der Pandemie oder dem Inflationsschub in Europa nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zu tun. Der in drei Regionen (Flandern, Wallonien und Brüssel) sowie drei Sprachgemeinschaften (französisch, flämisch, deutsch) zergliederte Staat ist schlicht zu teuer. Und er verteilt zu viel Geld, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Um das strukturelle Defizit in den Griff zu bekommen, reiche eine Legislaturperiode von fünf Jahren gar nicht aus, sagt De Wever.

Erschwerend hinzu kommt nun die Notwendigkeit, die Militärausgaben zu erhöhen. Belgien zählt nicht nur zu den am höchsten verschuldeten europäischen Ländern – es gehört mit Spanien und Italien auch zu den europäischen Ländern, die am wenigsten für ihre Verteidigung aufwenden. 1,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes weist die Statistik aus.

Im Hauruckverfahren zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato

De Wever will das schleunigst ändern. Ansonsten, so sagt er, brauche er sich beim nächsten Nato-Treffen der Staats- und Regierungschefs gar nicht blicken zu lassen. Die Pläne der alten Regierung sahen vor, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bis 2029 zu erreichen. De Wever will nun auf die Schnelle vier Milliarden Euro auftreiben, um schon bis Sommer dieses Jahres die Vorgaben zu erfüllen. Damit mutet er dem kleinen Land einen gewaltigen Kraftakt zu, wie er aus Spanien oder Italien bislang nicht bekannt ist.

De Wever hat sich noch nicht öffentlich dazu geäußert, woher das Geld kommen soll. Die EU-Kommission stellt in Aussicht, zusätzliche Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten von den Schuldenregeln auszunehmen, aber davon will die belgische Regierung angesichts des schon bestehenden Schuldenbergs nur sehr eingeschränkt Gebrauch machen. Debattiert wird nun darüber, Unternehmen zu verkaufen, die ganz oder teilweise dem belgischen Staat gehören. Dazu zählen beispielsweise die Banken BNP Paribas und Belfius oder der Versicherungskonzern Ethias.

Weitere Einsparungen im Haushalt kommen nicht infrage.  Sie würden von den flämischen Sozialdemokraten, der am weitesten links angesiedelten Partei der Regierungskoalition, nicht mehr mitgetragen. Und die belgischen Gewerkschaften würden vermutlich zu noch mehr Streiks aufrufen.

Gesamten Artikel lesen