»Mein spontaner Gedanke: Männer!« Mit dieser lapidaren Aussage im Gespräch mit dem SPIEGEL beantwortete Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Frage danach, was sie beim Anblick des Ampel-Dramas gedacht habe. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sagte nun im Interview mit dem »Tagesspiegel« , er finde Merkels Vorwurf billig. »Bei der Frage bin ich befangen. Aber der Vorwurf ist billig – als gäbe es nicht auch unter Frauen Zankereien. Da sage ich doch auch nicht: Weiber!«, sagte das Urgestein der Sozialdemokraten.
Merkels Biografie will Thierse nicht lesen. »Ach was, ich habe eine Abneigung gegen Politiker-Biografien. Die Rezensionen reichen mir«, sagte er.
Thierse äußerte sich auch über Merkels Außenpolitik. »Im Rückblick ist sie Teil unserer kollektiven Illusion«, sagte er über die frühere CDU-Kanzlerin. »Weltweit herrschte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Hoffnung auf Austausch und Frieden. Das prägte auch den Blick auf Wladimir Putin. Ich war bei seinem Auftritt im Bundestag 2001 Bundestagspräsident. Alle haben begeistert geklatscht, weil wir den Eindruck hatten, er wolle Russland nach Europa führen«, fügte Thierse hinzu.
Er beschreibt zudem eine Begegnung mit dem Kremlherrscher: »Ich hatte ein langes Gespräch mit ihm unter vier Augen. Er spricht dieses wunderbare slawische Deutsch, dieses weiche, gleitende. Man kann heute sagen: Putin hat uns betrogen, wir haben uns geirrt. Aber Europa muss ein Interesse daran haben, dass sein größter Nachbar nicht dauerhaft auf Krieg und Imperialismus setzt.«
Kein Mitleid für Scholz
Der frühere Bundestagspräsident kritisierte auch seinen Parteikollegen Olaf Scholz. Er habe kein Mitleid mit dem Bundeskanzler, sagte er. Er nahm wieder Bezug auf Merkel: »Natürlich war es ein Problem, dass Scholz meinte, man könne so ähnlich wie Merkel regieren. Die Zeiten sind andere«, fügte er hinzu.
Zugleich halte er Scholz für den richtigen Kanzlerkandidaten. Er habe »das größere Kampfgewicht« als Verteidigungsminister Boris Pistorius, der auch mit einer möglichen Kanzlerkandidatur in Verbindung gebracht worden war. Scholz »besitzt Regierungserfahrung und hat erfolgreich Wahlkämpfe geführt. Pistorius wäre als Kandidat sofort runtergeschrieben worden«, sagte Thierse. »Es wäre übrigens gar nicht schlimm gewesen, wenn Pistorius gesagt hätte: Ich trete an. Dann hätte die Partei entschieden. Hat er aber nicht. Scholz ist entschlossener.«
Thierse war von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident, der erste aus den neuen Bundesländern. Anschließend war der inzwischen 81-Jährige bis 2013 Bundestagsvizepräsident.