Personalverwaltungssysteme haben ihre Tücken – und die können ganz direkte Auswirkungen haben, etwa auf den Schulbetrieb. Die Abstraktionsstufe ist hoch, mit der verschiedene Beteiligte nun davon berichten, dass in Baden-Württemberg hunderttausende Schulstunden nicht wie geplant stattgefunden haben: "Fälschlicherweise als belegt ausgewiesen", seien Lehrerstellen in einem Softwaresystem, heißt es etwa von Seiten des Kultusministeriums. Und das sei bereits seit 2005 der Fall gewesen.
Was das bedeutet: Über zwei Jahrzehnte wurden Lehrerinnen und Lehrer nicht eingesetzt, obwohl für sie eigentlich Stellen vorhanden gewesen wären. Wie viel Personal- und damit Unterrichtsausfall das verursacht hat, ist nicht bekannt und wird vielleicht nie genau ermittelt werden können. Denn worin genau das Problem bestand, können die beteiligten Stellen bis heute nicht genau eingrenzen – von einem "Softwarefehler" ist die Rede.
Ein Teil des Problems dürfte im System der Lehrerstellenvergabe liegen. Während in Verwaltungen Stellen sonst unmittelbar an einzelne Behörden oder Ministerien gebunden sind, ist das bei Lehrerinnen und Lehrern – die in Baden-Württemberg im Regelfall Landesbeamte sind – anders. Hier werden alle Stellen des Landes stattdessen in einem Stellenpool zentral erfasst.
DIPSY und DAISY
Dieser Stellenpool umfasst derzeit 95.000 Vollzeitstellen, für die in der Landes-IT zwei Systeme maßgeblich sind: Das "dialogisierte Abrechnungs- und Informationssystem" (DAISY) des Landesamtes für Besoldung und Versorgung, mit dem Gehälter und vor allem beihilferechtliche Ansprüche abgerechnet werden. Für die Zuweisung der tatsächlichen Lehrerinnen und Lehrer an Schulen ist aber das Dialogisierte Integrierte Personalverwaltungssystem (DIPSY-Lehrer) maßgeblich, in dem die 95.000 Stellen dann aufgeteilt und dem errechneten Bedarf entsprechend von Schulleitungen abrufbar werden. Erst wenn dort Stellenanteile oder ganze Stellen als verfügbar markiert sind, kann eine Schulleitung Lehrkräfte anfordern. Anschließend werden über DIPSY-Lehrer die Stellen als zugewiesen markiert und über DAISY abgerechnet.
Hier soll es, doch so genau wissen es die Beteiligten Stellen bislang nicht, bereits 2005 zu ersten Fehlern gekommen sein, als DIPSY und DAISY eingerichtet wurden. Damals habe kein Abgleich zwischen Istzustand und Daten stattgefunden, die in das damals neu aufgebaute Adabas-basierte System übernommen wurden. Danach sei das Problem sukzessive größer geworden, heißt es. Denn aus unterschiedlichsten Gründen seien die Stellen von nicht mehr zur Verfügung stehenden Lehrerinnen und Lehrern in den Systemen nicht mehr freigegeben worden, heißt es aus den zuständigen Behörden.
Die Stellen waren im Stellenpool-System weiterhin als belegt markiert – obwohl die Menschen, die auf diesen zuletzt eingesetzt waren, gar nicht mehr da waren. Dies soll etwa bei dauerhafter Krankheit oder Ruhestand der Fall gewesen sein. Die Zahl der so rein virtuell besetzten Stellen wuchs immer weiter an. Bis zuletzt über 1400 Vollzeitstellen real unbesetzt waren, im System aber weiterhin als belegt markiert. Was genau zu diesen Datenbankfehlern geführt hat, soll eine Projektgruppe nun versuchen herauszufinden – und diese für die Zukunft abstellen.
Ministerien haben nichts bemerkt
Der Vorgang hat das Zeug dazu, im Jahr vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg ein Politikum zu werden. Denn aufgefallen war das Problem über Jahre niemandem – nicht im Kultusministerium und nicht im Finanzministerium. Aus Sicht beider Ministerien war der Vorgang unauffällig: Bei 95.000 Stellen und damit 130.000 Lehrerinnen und Lehrern, die häufig ihre Stundenumfänge änderten, falle diese Größenordnung nicht sofort auf, heißt es von beiden.
Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) schilderte im SWR, dass es "alle überrascht habe", als sich mit einem Softwareupdate nun herausgestellt habe, dass plötzlich 1400 Stellen mehr vorhanden gewesen seien. Der Impuls zur Prüfung sei aus dem ebenfalls Grünen-geführten Finanzministerium gekommen.
Durch die Nichtbesetzung der Stellen hat das Kultusministerium – mal unter SPD-, mal unter CDU-, mal unter Grünen-Führung – nicht nur über Jahre Haushaltsgelder zur Verfügung gehabt, die es so nie ausgegeben hat. Damit hat es auch bei Sparrunden einen veritablen Puffer zur Verfügung gehabt, da diese Gelder für die Deckung anderer Posten genutzt hätten werden können. Über die Jahre könnte der Bildungsetat eine gute Milliarde Euro als Luftbuchung enthalten haben. Das derzeit Grünen-geführte Landeskultusministerium gibt sich auf konkrete Nachfragen dazu wortkarg, wie genau die Gelder umgebucht wurden.
Die Hauptleidtragenden des "Softwarefehlers" waren jedoch die Schülerinnen und Schüler. Denn statt mit regulären Lehrkräften den Unterricht zu gestalten, musste Vertretungsunterricht organisiert oder Schulausfall bewältigt werden. "Jeder Euro, der in den vergangenen Jahren auf Kosten der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Lehrkräfte nicht an die Schulen geflossen ist, muss für die dringend nötigen Investitionen wie Ganztagsausbau, Inklusion und bessere Förderung zurückgezahlt werden", fordert Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Die GEW fordert, dass die nun wieder freigegebenen Stellen unverzüglich besetzt werden, mit Priorität auf sonderpädagogische Bildungseinrichtungen, Grundschulen und die Vertretungsreserve des Landes. Der Vorgang im Ländle dürfte dabei einzigartig bleiben: die dort verwandte Softwarearchitektur wird so in keinem anderen Bundesland eingesetzt.
(emw)